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Hex

Titel: Hex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Großstadt. Er trug einen schwarzen Hut, einen zerfetzten schwarzen Anzug und eine dunkle Brille, die seine Augen verdeckte. Die Qualität des Bildes war katastrophal – verwischt, unscharf, vom holzhaltigen Papier verzerrt –, aber das machte es nur noch unheimlicher. Den Mann schien das Treiben um ihn herum völlig kaltzulassen. Er stand hochaufgerichtet da und blickte starr durch seine Brille geradeaus. Die Menschen, die aufgeregt auf ihn einzusprechen schienen, beachtete er gar nicht.
    Darunter stand als Bildtext ein einzelner Satz: Jakob Eisenstein bei seinem überraschenden Auftauchen vor zehn Tagen.
    Sina rückte näher, um gleichfalls einen Blick auf das Bild zu erhaschen. »Steht da, wer es ist?«
    »Er heißt Eisenstein. Jakob Eisenstein. Ich kann mich an den Fall erinnern, irgendein Regierungsbeamter, der vor ein paar Jahren verschwand. Es hieß, er sei übergelaufen, glaube ich.« Max senkte die Zeitung und sah Sina über den Rand hinweg an. »Es ist nur ein Zufall. Er hat dunkle Kleidung an und eine Brille. Sein Gesicht ist auf dem Bild kaum zu erkennen.«
    Sina tat seinen Einwurf mit einem heftigen Kopfschütteln ab. »Er ist es. Ich bin ganz sicher. Ich weiß nicht, warum, aber ich erkenne ihn wieder. Ganz bestimmt.«
    »Das ist unmöglich.« Er blickte wieder auf die Zeitung und überflog den Artikel, zu dem das Bild gehörte. »Hier steht, Eisenstein sei nach seinem überraschenden Auftauchen in Berlin gestern endgültig im Irrenhaus untergebracht worden. Offenbar haben sich Ärzte tagelang vergeblich um ihn bemüht.« Er verzog das Gesicht. »Liebe Güte, man mußte ihm die Kleider vom Leib schneiden. Hier steht, der Anzug sei in den vergangenen sechs Jahren vermutlich kein einziges Mal ausgezogen worden. Stoff und Schmutz waren in seine Haut eingewachsen.« Kopfschüttelnd reichte er Sina die Zeitung. »Hier, lies es dir durch. Er kann es nicht gewesen sein. Wie soll er nach Grönland kommen, wenn er in Berlin untersucht wird? Außerdem, ich bitte dich... würde ich Anzug, Hut und Brille tragen, sähe ich genauso aus wie er. Oder wie deine drei Schneemänner.«
    Zornesröte schoß ihr ins Gesicht. »Du glaubst mir nicht?« fuhr sie ihn scharf an. »Denkst du wirklich, ich hab’ mir das da oben am Krater alles eingebildet? Das kann nicht dein Ernst sein!«
    »Mein Gott, Sina, wir waren beide angetrunken. Du hast die Orientierung verloren und...«
    »Ich nahm an, wir würden einander mittlerweile so weit vertrauen, daß wir die Beobachtungen des anderen nicht anzweifeln!« Ihre Augen glänzten vor Wut und Enttäuschung. »Aber offenbar habe ich mich geirrt.«
    »Es tut mir leid. Ehrlich«, lenkte er bedauernd ein. »Es ist nur... Herrgott, dieser Mann auf dem Bild ist in Berlin! Man kann ihn nicht mal richtig erkennen. Und du behauptest, er sei dir in Grönland begegnet. Was würdest du denn sagen, wenn ich so was behaupten würde?«
    Sina funkelte ihn einen Augenblick länger an, dann ließ sie sich schlagartig in den Sitz zurückfallen. Sie wirkte erschöpft und plötzlich sehr verletzlich.
    »Du hast ja recht«, sagte sie leise.
    Aber während der Zug die Vorstädte Nürnbergs passierte und schließlich in den Bahnhof einfuhr, dachte sie trotzig, daß sie wußte, was sie gesehen hatte. Sie wußte es. Und sie hatte den Mann erkannt. Es kränkte sie, daß Max ihr nicht glaubte.
    Dabei hatte sie die größte Ungeheuerlichkeit für sich behalten: Es war dreimal derselbe Mann gewesen, der ihr am Kraterrand erschienen war, wie Drillinge in identischer Kleidung.
    Dreimal Jakob Eisenstein.
     
    Mit einem ohrenbetäubenden Kreischen der Räder kam der Zug zum Stehen. Auf dem Gang vor den Abteilen drängten Dutzende Menschen den Ausgängen entgegen. Max beobachtete sie durch die Scheibe, wie sie schoben und schimpften und ihren Vordermännern das Gepäck in die Kniekehlen rammten. Erst, als sich der Aufruhr gelegt hatte, verließen auch Sina und er den Zug und traten hinaus auf den Bahnsteig.
    Das Gedränge war entsetzlich, aber irgendwie gelang es ihnen, mit ihren Taschen bis zur Treppe vorzustoßen und in den düsteren Tunnel hinabzusteigen, der in die Bahnhofshalle führte. Hier verlief sich die Menge ein wenig, und sie konnten endlich wieder frei atmen.
    »Zu welchem Ausgang?« fragte Sina.
    »Vorne raus.«
    »Und dann? Willst du einfach auf gut Glück durch die Stadt laufen?«
    Er keuchte übertrieben auf, vordringlich, um seine eigene Unsicherheit zu überspielen. »Hauptsache erst mal an die

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