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Hex

Titel: Hex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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er zu wissen, wo er suchen mußte. Seine Knie begannen zu beben, und diesmal war es nicht die Angst vor dem, was ihn am Grunde des Burgbergs erwarten mochte. Er mußte sich zwingen, seine Anspannung zu überwinden und präzise zu beobachten.
    Er bekam seine Chance am Ende eines Korridors, der wie alles hier unten durch eine provisorisch verlegte Kette von Glühbirnen erhellt wurde. Der Gang endete am oberen Absatz eines weiteren Treppenschachtes, dessen rechte Wand vom Panorama einer gewaltigen, vorzeitlichen Schlacht bedeckt war. Die Stufen waren aus uraltem Eichenholz, knarrend, aber stabil. Hebel oder Nischen waren nirgends zu sehen.
    Max hatte kaum die oberste Stufe betreten, als er seine Ferse mit aller Kraft nach hinten stieß. Und er behielt recht. Die Rückwand der Stufe gab nach und klappte unmerklich nach innen. Max konnte es kaum glauben: Nach all den Jahrhunderten war der Mechanismus funktionsbereit wie am ersten Tag.
    Er wußte, daß jetzt irgendwo unter den Holzstufen eine komplizierte Folge von Zahnrädern, Waagschalen und Sandrutschen aus ihrem Schlaf erwachte. Er schickte ein stummes Stoßgebet zur Tunneldecke, daß der Mechanismus schnell genug in Gang geriet, bevor er und die Männer das Ende der Treppe erreichten. Dabei achtete er peinlich genau darauf, eng am Gemälde entlangzugehen. Niemand schöpfte Verdacht.
    Ein dumpfes Grollen in der Tiefe gab seinen Hoffnungen recht. Die Soldaten blieben stehen und blickten einander irritiert an.
    »Was war das?« fragte einer, der seine Waffe auf Max gerichtet hatte.
    Einen Atemzug später verschlang ihn der Abgrund. Sein Schrei verklang in der Tiefe. Auch einer der beiden Soldaten, die vor Max gingen, sauste kreischend ins Dunkel unter der Treppe. Sein Nebenmann schwankte am Rande der Kante und versuchte mit aufgerissenen Augen, sich an Max festzuhalten. Der aber wich seinen zupackenden Händen aus. Der Soldat verlor das Gleichgewicht, ruderte panisch mit den Armen und verschwand. Sein Schrei brach ab, als er am Grund der Grube aufschlug.
    Max fuhr herum. Der letzte verbliebene Soldat hielt immer noch seinen Revolver umklammert. Auch er war auf der rechten Seite der Treppe gegangen, ohne zu wissen, daß er damit sein Leben rettete. Jetzt starrte er voller Entsetzen zu Boden. Die Stufen waren halbseitig entlang einer schnurgeraden Linie nach unten weggebrochen. Eine Hälfte stand noch, die andere war fort. An ihrer Stelle klaffte ein schwarzer Abgrund, aus dem eiskalte, muffige Luft emporwehte.
    Der Soldat stammelte etwas, riß die Waffe herum – zu spät! Max hatte ihn bereits gepackt, zog ihn am Arm nach vorne und hoffte, der Mann würde ebenfalls in den Spalt stürzen. Doch diesen Gefallen tat er ihm nicht. Vielmehr überwand der Soldat schlagartig seinen Schrecken und schien zu begreifen, daß Max – auf welche Weise auch immer – die Schuld am Schicksal seiner Kameraden trug. Mit wutverzerrten Zügen sprang er vor, entwand seinen Arm aus Max’ Griff, stieß gegen die Brust seines Gegners und versuchte, Max in den Abgrund zu drängen. Die verbliebene Treppenhälfte maß wenig mehr als einen Meter, ein Grat, kaum breit genug, um darauf zu gehen, und sicher kein geeigneter Platz für einen Kampf auf Leben und Tod.
    Schon nach den ersten Schlägen und Stößen war abzusehen, daß derjenige, der am Ende in die Tiefe stürzen würde, den anderen unweigerlich mitziehen mußte. Die Waffe war dem Soldaten entglitten, sie lag einige Stufen tiefer am Rand der Grube. Keinem der Männer gelang es, sich vom Gegner zu lösen, um den Revolver zu ergreifen. Ihr Keuchen erfüllte den Schacht, während aus dem Abgrund das Röcheln eines Sterbenden heraufdrang.
    Plötzlich ertönte ein Ruf. »Los, helft ihm!«
    Max und der Soldat blickten gleichzeitig auf. Zwei Uniformierte balancierten unsicher die verbliebenen Treppenhälften herab. Ihr Befehlshaber blieb oben stehen und beobachtete das Geschehen mit zorniger Miene. »Beeilt euch, verdammt!« rief er seinen Männern zu.
    Der Soldat in Max’ Umklammerung grinste – und wurde einen Moment lang unvorsichtig. Max hebelte sein linkes Bein zur Seite, und sofort geriet der Soldat ins Taumeln. Dabei hielt er Max rechten Arm fest, und fraglos wäre Max mit ins Dunkel gestürzt, wären nicht im gleichen Moment die beiden anderen Männer herangekommen. Einer griff mit beiden Händen nach seinem schwankenden Kameraden. Der Soldat glaubte die Rettung nah, ließ Max los und packte statt dessen den Uniformierten. Der aber hatte

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