Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Hex

Titel: Hex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
darüberliegende Kapelle führte. Einst war es das Vorrecht der Herrschenden gewesen, dort oben zu beten.
    Max und seine Bewacher stiegen jedoch nicht nach oben – ganz im Gegenteil. Denn genau unterhalb der Deckenöffnung hatte man im Boden des Erdgeschosses die schweren Steinplatten beiseite geschafft und ein unterirdisches Treppenhaus freigelegt. Die geheime Natur des Einstiegs deutete darauf hin, daß das, was darunter lag, jahrhundertelang unbemerkt geblieben war.
    Trotz der Gefahr, in der er schwebte, betrachtete Max eingehend die Treppe. Es war ein kunstvoller Bau, eine steinerne Wendeltreppe mit Hohlspindel und geschwungener Wangensäule. Solche Konstruktionen traf man, selbst in uralten Bauten wie diesem, weit seltener an als gewöhnliche Wendeltreppen. Die Stufen waren unerhört breit und niedrig, nahezu rampenähnlich. Es war augenscheinlich ein Treppenbau, der nicht zum schlichten Auf- und Abstieg, sondern zum Transport sperriger Güter geschaffen worden war. Aber unterhalb einer Kapelle? Das war mehr als eigenartig.
    Die Stufen führten so tief hinab, daß Max auch nach grober Schätzung sicher war, daß sie sich bald schon unterhalb des Kellerniveaus der Burg befanden. Jeder Schritt, den sie jetzt taten, brachte sie tiefer ins Innere des Burgfelsens.
    Die Treppe endete in einem Gang, breit und hoch genug, daß ein Lastwagen hätte hindurchfahren können. Tatsächlich wies der behauene Steinfußboden zwei langgestreckte Kerben auf, ähnlich wie Wagenräder sie auf Feldwegen hinterlassen. Hier aber hatten die Räder ihre Spuren in Fels gegraben; dafür mußten sie viele tausendmale auf und ab gefahren sein. Was hatten die Menschen von damals so tief unter ihrer Burg versteckt, daß solche Transportwege nötig waren?
    Weiter ging es, durch ein Labyrinth breiter und schmaler Korridore, noch mehr Treppen hinunter, bis Max jegliche Orientierung verloren hatte. Ihm fiel auf, daß einige der engeren Treppenschächte auf einer Seite bemalte Wände aufwiesen, opulente Darstellungen von biblischen Szenen und höfischer Sitte. Obgleich die meisten bereits verblaßten, war es selbst für Laien unmöglich, unbeeindruckt daran vorüberzugehen. Sogar die Soldaten ließen ihre Blicke fasziniert über die Malereien schweifen.
    Da erinnerte Max sich an etwas, das er vor Jahren einmal während seiner Treppenforschungen gelesen hatte. Im selben Augenblick schwand seine Gleichgültigkeit, und er faßte neue Hoffnung.
    Sie wußten es nicht! Er beobachtete die Soldaten, registrierte jeden ihrer Schritte und brach innerlich in Jubel aus: Sie wußten es wirklich nicht!
    Denn dies waren keineswegs gewöhnliche Treppen – es waren Fallen. Menschenfallen! Und sie basierten auf einer denkbar simplen Beobachtung: Ein Mensch, der einen einseitig bemalten Treppenschacht hinabstieg, wechselte automatisch hinüber auf die unbemalte Seite, um eine bessere Sicht auf die Bilder zu haben. Konkret bedeutete das: War die linke Wand mit Gemälden geschmückt, ging der Treppensteiger unbewußt an der rechten Wand entlang, da ihm dies einen weiteren Blickwinkel auf die Kunstwerke gestattete. In vielen alten Bauten, angefangen bei den Pyramiden der ägyptischen Wüste bis hin zu geheimen Krypten unter gotischen Kathedralen, hatten Baumeister diesen Umstand genutzt – meist, um unerwünschte Besucher und Grabräuber in Fallgruben zu stürzen, die sich unterhalb einer Treppenseite auftaten. Wer am Bild vorbeiging, gelangte sicher nach unten. Wer aber nicht eingeweiht war und den Reizen der Malereien verfiel, stürzte unwillkürlich ins Verderben; auf seiner Seite klafften Abgründe auf, stahlgespickte Gruben und scharfzahnige Eisenschneiden, die ihr Opfer in Stücke schnitten.
    Die meisten dieser Falltreppen mußten mit Hilfe verborgener Mechanismen aktiviert werden, hölzerne Hebel, in Spalten und Mauernischen verborgen. Da die Treppen, über die Max und die Soldaten stiegen, offenbar noch nicht aktiviert waren, mußte er nur eine Möglichkeit finden, den Mechanismus einzuschalten. Vielleicht gelang es ihm so, zumindest einen Teil der Bewacher loszuwerden.
    Verzweifelt versuchte er, sich die Pläne ähnlicher Anlagen ins Gedächtnis zu rufen. Jahrelang hatte er Abschriften der alten Dokumente angefertigt, und viele kannte er in- und auswendig. Er wußte um die geheimen Treppen unter der Kathedrale von Salisbury und die Schwarzen Stiegen in Orvietos Domfassade, er hatte ihre Konstruktion studiert, analysiert, verinnerlicht. Und auch hier glaubte

Weitere Kostenlose Bücher