Hex
weiß es, glaube ich. Er und dieser Mann waren... Freunde.« Das letzte Wort sprach sie mit solcher Verachtung aus, daß Sina schauderte. So viel Haß in einem so jungen Mädchen.
»Sie sind Evelina, nicht wahr? Max’ Schwester?«
Selbst in der Finsternis bemerkte Sina, wie das Mädchen zusammenzuckte. »Woher wissen Sie das? Kennen Sie Max?«
»Mein Name ist Sina Zweisam. Ihr Bruder und ich sind Kollegen. Wir waren gemeinsam...«
»In Grönland, natürlich«, unterbrach Evelina sie. »Max hat erzählt, daß Sie ihn begleiten würden.« Sie rückte vor, bis das Licht ihr Gesicht beschien. Ihre hübschen Züge waren schmutzig, um ihre Augen lagen dunkle Sorgenringe. Ihr langes Haar war zerzaust.
Auch Sina rückte vor, bis sie sich gegenseitig im Zwielicht betrachten konnten.
»Sie haben ein blaues Auge«, stellte Evelina fast. »Waren das die Soldaten?«
»Das ist schon ein paar Tage alt. Sieht man es noch so deutlich?«
Evelina lächelte schwach. »Nur einen Streifen.«
»Ich glaube, das ist nicht die beste Gelegenheit, um eitel zu sein.«
Evelinas Gesicht wurde noch bleicher. »Ist Max auch hier unten? Haben die ihn...«
»Nein«, entgegnete Sina hastig. »Ich weiß nicht, wo er ist. Wir wurden getrennt, unten in der Stadt. Keine Ahnung, ob sie ihn gefangen haben, und ob er auch in der Burg ist.«
»Lieber Gott, hoffentlich nicht.«
»Darf ich jetzt nach Ihrem Vater sehen?«
»Ja, sicher.«
Gemeinsam rückten sie aus dem Licht wieder ins Dunkel, dorthin, wo Sina in der Finsternis einen Körper ertastete. Evelina hatte den Kopf ihres Vaters mit ihrer zerknüllten Jacke unterlegt. Wilhelm von Poser atmete leise und regelmäßig. Falls sie ihm eine Rippe gebrochen hatten, war sie zumindest nicht in die Lunge gedrungen.
Sina tastete behutsam seinen Schädel ab, konnte aber auch hier keine Wunden entdecken. Was nicht ausschloß, daß er eine Gehirnerschütterung oder innere Verletzungen erlitten hatte.
»Er braucht einen Arzt«, sagte Evelina leise.
»Das wäre sicher gut. Aber ich glaube, es steht nicht allzu schlimm um ihn.« Sinas Optimismus war nicht ganz aufrichtig, sie hielt es jedoch für besser, das Mädchen zu beruhigen.
»Wirklich?«
»Ich denke schon.«
»Danke, Sie sind sehr nett.«
»Das ist das mindeste, was man hier unten tun kann – nett sein.«
Evelina ergriff ihre Hand. »Ich bin froh, daß Sie hier sind.«
Sina unterdrückte ein Beben in ihrer Stimme. »Ich weniger.«
»Ganz allein in diesem Loch, mein Vater bewußtlos und niemand hier, der einem helfen kann – das macht einen verrückt. Glauben Sie, Max holt uns hier raus?«
»Schon möglich.« In Wahrheit schien Sina das höchst unwahrscheinlich. Max war nicht gerade die Art von Held, die im Alleingang Burgen stürmte.
»Erzählen Sie mir, warum Sie hier sind«, bat Evelina.
Sina befeuchtete ihre spröde gewordenen Lippen mit der Zunge, holte tief Luft und schilderte der jungen Frau die ganze Geschichte. Vom Flug nach Grönland über ihren Weg zum Krater, vom Attentat des Magiers bis zu ihrer Rückkehr nach Deutschland. Schließlich berichtete sie von Larissas Entführung und ihrer überhasteten Fahrt nach Nürnberg.
»Larissa ist auch hier?« fragte Evelina verwundert.
»Sie haben sie noch nicht gesehen?«
»Nein.«
»Dann ist sie denen vielleicht entkommen.«
»Oder tot«, meinte Evelina illusionslos.
»Oder tot«, bestätigte Sina.
»Larissa und ich haben uns nie sehr gemocht, wissen Sie, aber jetzt wünschte ich, ich könnte ihr Gesicht sehen. Nicht hier unten, nicht so wie Sie, sondern draußen, bei Tageslicht, in der Sonne...« Sie brach ab und begann erneut zu weinen.
Sina nahm sie widerstrebend in den Arm und tröstete sie. Schließlich, nachdem Evelinas Tränen versiegt waren, bat Sina sie: »Jetzt sind Sie dran. Erzählen Sie mir von Ihnen und Ihrem Vater. Was hat Sie nach Nürnberg verschlagen? Und wie kommen Sie hierher?«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht genau. Mein Vater kam gestern vormittag nach Hause und... – oder war es vorgestern? Himmel, hier verliert man jedes Gefühl für die Zeit.«
Genau das ist der Zweck des Ganzen, dachte Sina; deshalb die abgehängten Fenster, die schreckliche Finsternis. Alles nur, um die Gefangenen zu zermürben. Sina spürte es bereits am eigenen Leib. Wie lange sprachen sie jetzt miteinander? Zehn Minuten? Zwei Stunden?
»Auf jeden Fall kam mein Vater nach Hause und war völlig aufgelöst. Irgend etwas hat ihn sehr aufgeregt. Er sagte, er müsse sofort
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