Hex
Klangteppich aus diffusen Stimmen und dem fernen Knattern von Automobilen. Die Helligkeit brannte in Sinas Augen, aber zugleich widerlegte sie das absurde Gefühl, daß ihre Gefangenschaft im Turm auch die Außenwelt verändert hatte. Die Atmosphäre des Unwirklichen blieb auf der anderen Seite des Portals zurück, die Realität empfing sie mit Wärme und Licht.
Mit langsamen Schritten ging sie quer durch den Saal auf Zacharias’ Schreibtisch zu, dem einzigen Möbelstück im ganzen Raum. Die beiden Soldaten, die mit ihr eingetreten waren, folgten ihr auf einen Wink des Alten hin mit zwei Metern Abstand. Auf dem hellbraunen Parkett knallten ihre Stiefel ungewöhnlich laut. Die gelbschwarze Leistendecke des Raumes war nicht hoch und wurde von hölzernen Säulen getragen. Die weißen Wände und das Tageslicht gaben dem Saal einen freundlichen, einladenden Charakter, trotz seiner enormen Weite.
Zacharias hatte die Ellbogen aufgestützt, die Finger vor dem Kinn verschränkt und blickte Sina durchdringend an. Hinter seinem Rücken stand ein gewaltiger, pechschwarzer Kachelofen, reich verziert mir Reliefen.
Sie starrte zurück und wünschte, ihre Blicke würden sein Hirn wie Gewehrkugeln durchbohren. »Ich wußte, daß Sie dahinterstecken, aber ich habe es nicht glauben wollen.«
»Sie werden alle Erklärungen bekommen, die nötig sind«, entgegnete der Alte ungeduldig. »Aber erst beantworten Sie mir meine Frage: Wissen Sie, wer Ezechiel war?«
Sina funkelte ihn bösartig an. »Haben Sie mich herbringen lassen, um Ratespielchen mit mir zu spielen?«
»Ich versuche, sachlich zu bleiben, und das sollten Sie ebenfalls. Ich war immer sehr stolz auf Sie, Sina. Sie waren die beste Agentin im Hex, allen anderen weit überlegen. Und warum?« Er beugte sich über den Schreibtisch vor. »Weil Sie geglaubt haben. Weil Sie keine Sekunde an den Zielen des Hex gezweifelt haben. Und nichts anderes verlange ich jetzt von Ihnen, Sina. Glauben Sie! Vergessen Sie all Ihre Zweifel! Hassen Sie mich, wenn Sie mögen, aber vergessen Sie nicht, um was es geht. Das hier ist die Wirklichkeit, und alles, was Sie hier unten sehen werden, ist real.«
Er stand auf, trat um den Schreibtisch und blieb zwei Schritte vor Sina stehen. Selbst wenn sie gewollt hätte, sie hätte ihn nicht angreifen können. Die beiden Soldaten, die als Bewacher hinter ihr standen, hatten ihr Handschellen angelegt.
»Also noch einmal meine Frage: Wer war Ezechiel?«
Sie schloß für einen Moment die Augen und legte all ihre Verachtung in die Antwort. »Ein Prophet.«
»Das Buch Ezechiel findet sich auf den letzten Seiten des Alten Testaments«, sagte Zacharias. »Er war in der Tat ein Prophet. Aber er war auch viel mehr: Ezechiel war – und ist – der Schlüssel zum größten Geheimnis der Menschheitsgeschichte.«
»Wo ist Max? Haben Sie ihn ermorden lassen?«
Zacharias überhörte ihren Einwurf. In aller Seelenruhe fuhr er fort: »Ezechiel wurde um das Jahr 623 vor Christus in Jerusalem geboren. Als er ein junger Mann war, wurde das Land Juda zum Vasallen Babylons. Fünf- oder sechstausend Männer und Frauen der Oberschicht wurden nach Babylonien verschleppt, in die südliche Ebene zwischen Euphrat und Tigris. Dort gestattete man ihnen, Dörfer zu gründen und ihr Leben so zu führen, wie sie es in ihrer Heimat getan hatten. Ezechiel war eine dieser Geiseln. Als Priester versuchte er, den alten Glauben Judas aufrechtzuerhalten und die Menschen vor den Verlockungen der babylonischen Kulte zu bewahren.«
Sina rüttelte an ihren Handschellen, obgleich sie wußte, wie sinnlos das war. »Ersparen Sie mir Ihren Sermon, Zacharias. Sagen Sie mir, was Sie wollen und...«
Wieder unterbrach er sie, ohne auf ihren Einwurf zu achten. »Einmal, als Ezechiel Anfang Dreißig war, wurde er während einer seiner Wanderungen von einem Gewitter überrascht. Der Himmel öffnete sich, und ihn überkam eine apokalyptische Vision.« Seine Augenbrauen hoben sich. »Ist es Ihnen nicht ganz ähnlich ergangen, Sina?«
»Woher wissen Sie...« Dann begriff sie. »Der Magier! Ist er hier?« Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden, und zwang sich, ruhig zu bleiben.
»Ja, er ist hier. Aber es ist nicht nötig, daß Sie ihm begegnen – vorausgesetzt, Sie bleiben vernünftig.« Zacharias schenkte ihr ein väterliches Lächeln. »Zurück zu Ezechiel: Er sah dieselben Bilder, die auch Ihnen erschienen. Sie haben die Stelle in der Bibel bereits nachgelesen, nicht wahr? Er sah vier
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