Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Hex

Titel: Hex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
menschenähnliche Gestalten, jede mit vier Gesichtern – von Mensch, Löwe, Stier und Adler –, mit Hufen und zwei weiten Flügelpaaren. Ihre Körper glänzten wie Metall, ihre Schwingen rauschten wie Donner. Neben diesen Gestalten waren vier funkelnde Räder und innerhalb dieser Räder nochmals Räder mit Felgen, die über und über mit Augen bedeckt waren. Über den Köpfen dieser Gestalten erblickte Ezechiel eine Plattform, und auf ihr saß Gottvater selbst in der Gestalt eines Menschen. Er verkündete Ezechiel, er sei von nun an der Prophet des Herrn und habe die Aufgabe, in Gottes Auftrag über die Menschheit zu wachen. Wörtlich sagte er: ›Menschensohn, fürchte dich nicht vor ihnen, und erschrecke nicht vor ihren Drohworten, wenn auch Disteln und Dornen um dich herum sind und du bei Skorpionen wohnen mußt – denn ein Haus der Widerspenstigkeit sind sie‹.«
    Wut und Verzweiflung schärften Sinas Stimme. »Was soll das, Zacharias? Ich bewundere ihre Bibelfestigkeit, aber hier geht es schwerlich um Gott. Um ihn am allerwenigsten.«
    »Nicht um Gott«, gab er ihr recht, »aber um das, was Ezechiel dafür hielt. Sie haben diese Vision selbst erlebt, Sina, und nicht Sie allein. Mir erschien sie schon vor sechs Jahren.«
    Sina verschlug es vor Überraschung fast die Sprache. »Ihnen auch?«
    »Mir und Ihnen und wahrscheinlich einigen Dutzend anderern. Wir alle haben gerätselt, gezweifelt und versucht, das Geheimnis dieser Bilder zu lösen.«
    »Und natürlich haben Sie es geschafft«, spottete Sina. »Plötzlich begriffen Sie, daß Sie ein Erwählter waren und Gott Ihnen den Auftrag gab, einen Mörder auf ihren Patensohn zu hetzen. So war es doch, oder? Vielleicht glaubten Sie, Sie seien der wiedergeborene Abraham, der Gott ein Menschenopfer darbringen muß.«
    »Seien Sie still«, gebot Zacharias ihr, aber es klang nicht zornig. Er hatte nicht einmal die Stimme erhoben. »Es geht hier nicht um Religion, Sina. Auch nicht um Gott und seinen Willen. Wir sprechen von einem der größten Mißverständnisse der Geschichte. Ezechiel hatte eine Vision, aber es war nicht Gott, der sie ihm eingab. Ebensowenig wie Ihnen oder mir oder irgendeinem anderen.« Er beobachtete genau ihre Reaktion und erwartete wohl neuerlichen Widerspruch, doch diesmal blieb sie still. »Es ist in der Tat gelungen, die Bedeutung der Vision zu entschlüsseln«, fuhr er fort und schränkte gleich darauf ein: »Aber natürlich nicht mir selbst. Ich besitze nicht das geringste Talent, was Geheimsprachen und Codes angeht. Vielmehr haben wir einige der fähigsten Experten beauftragt, ihre Bedeutung zu ergründen, Männer und Frauen, die ihr ganzes Leben damit verbracht haben, aus dem wenigen, was wir über ägyptische Hieroglyphen und babylonische Keilschrift wissen, komplette Sprachen zu rekonstruieren. Es ist verblüffend. Diese Leute nehmen eine Reihe von Zeichen – sagen wir, ein Dutzend oder zwei –, und daraus basteln sie die Verständigung einer ganzen Kultur. Ihnen ist es gelungen, die Inschriften der alten Tempel und Pyramiden zu deuten, die Texte der Papyri und Felstafeln, und durch sie erfuhr die Welt, mit welchen Worten sich die Assyrer, die Israeliten und Pharaonen unterhielten.« Er räusperte sich, als er merkte, daß er abschweifte. »Unsere Experten nahmen sich der Vision des Ezechiel an, ergänzten sie um die Details, die wir anderen bemerkt hatten, und begannen, eine Bedeutung herauszufiltern.«
    Sina sah ihn verwirrt an. Ihre Wut und ihr Haß schlugen immer mehr in Neugier um. Sie konnte nichts dagegen tun, und das machte sie zornig – nicht etwa auf den Alten, sondern auf sich selbst. »Sie wollen damit sagen, hinter dieser Vision verbirgt sich eine Botschaft? Und zweieinhalbtausend Jahre lang soll das niemandem aufgefallen sein?«
    Ein feines Lächeln lag um Zacharias’ Mundwinkel. »Keine Botschaft. Etwas viel Besseres.«
    »Und das wäre?«
    »Ein Alphabet.«
    »Das ist nicht Ihr Ernst.«
    »O doch. Die Vision des Ezechiel birgt ein unbekanntes Abc, die Basis für eine Sprache – oder besser: für eine vollkommen fremde Kommunikationsform!«
    Sina stockte der Atem. »Wessen Sprache?«
    »Sehen Sie«, sagte er gedehnt, »und damit wären wir wieder am Anfang. Denn genau das ist der Punkt, um den es geht. Stellen Sie sich folgendes vor: Das Schiff irgendeines Entdeckers, sagen wir vor zweihundert oder dreihundert Jahren, erreicht eine abgelegene Insel, irgendwo im Ozean. Die Eingeborenen, die dort leben, benutzen

Weitere Kostenlose Bücher