Hex
Zumutung«, wiederholte der Husar a. D. und schüttelte so heftig den Kopf, daß die Orden an seiner Uniform klimperten. »Der gute alte Wiener Walzer ist wohl nicht mehr fein genug.«
Der Kaplan lächelte noch immer und blickte nachsichtig auf die kleine Gruppe von Tänzern und Tänzerinnen, die sich auf der Veranda verrenkten. »Wissen Sie, wie die jungen Damen sich nennen, die diese Tänze beherrschen?«
Der Baron keuchte vor Abscheu. »Wenn Sie es mir sagen, denken Sie daran, ich bin zweiundsiebzig, und mein Herz ist nicht mehr das beste.«
»Jazzbabys«, sagte der Kaplan beinah triumphierend. »Stellen Sie sich das vor – Jazzbabys!«
Der alte Husar zog ein Gesicht, als wollte er im nächsten Moment auf den Boden spucken. Damals, im Feld, hätte er es zweifellos getan; hier aber entsann er sich seiner guten Sitten. Er wollte etwas erwidern, aber im selben Augenblick wechselte die Musik, und die leichtbekleideten Tänzerinnen verfielen in hemmungsloses Gehopse. Der Baron blickte zweimal hin, um es fassen zu können.
Er stöhnte leise. »Das ist...«
»Charleston«, ergänzte der Kaplan. Seine Blicke fuhren an den nackten Beinen der jungen Damen auf und nieder.
Die Mädchen wiegten sich wild hin und her, gingen tief in die Knie, um dann mit rudernden Armen, schwingenden Hüften und schwenkenden Beinen wieder aufzuspringen.
»Eine Zumutung«, sagte der Baron zum vierten Mal, ließ aber offen, ob er die unsittlichen Blicke des Kaplans oder die Beine der Mädchen meinte. Dann wandte er sich ab und trat von der Veranda zurück in den Festsaal. Ein paar Schritte entfernt standen der Gastgeber, Wilhelm von Poser, und seine hübsche Tochter Evelina und unterhielten sich mit zwei grellgekleideten Damen. Die eine war Opernsängerin mit entsprechender Leibesfülle, die andere, ein junges, mageres Ding, ihre Sekretärin. Jeder wußte, daß die Diva die Dienste der Sekretärin auch im Dunkeln unter der Bettdecke in Anspruch nahm. Der alte Husar hoffte, daß es dunkel dabei war. Obgleich er die beiden Frauen verabscheute, gesellte er sich zu der kleinen Gruppe.
»Sehen Sie nur, jetzt rauchen Sie!« empörte sich gerade die Diva und blickte zu zwei jungen Mädchen, Freundinnen Evelinas, die unter einer Reihe alter Portraits an der gegenüberliegenden Wand lehnten. Die beiden tuschelten und kicherten und warfen ab und an verstohlene Blicke zu einem Trio schmucker Offiziere in Galauniform. Die drei Männer hatten das Interesse der Mädchen bemerkt und flüsterten miteinander.
Daß die beiden Mädchen rauchten, fand die Diva skandalös, wie sie nun ein zweites Mal beteuerte. Der Baron bemerkte, daß Evelina, eine dunkelhaarige Schönheit von neunzehn Jahren, verstohlen lächelte. Der Genuß von Tabak war bis vor einigen Jahren allein den Männern vorbehalten gewesen; nur Prostituierte hatten sich in der Öffentlichkeit mit Zigaretten gezeigt. Wie so vieles andere hatte sich auch das geändert. Daß die beiden jungen Frauen allerdings so ungeniert auf einem Fest wie diesem rauchten, war in der Tat gewagt. Es war wahrscheinlich der einzige Punkt, in dem die Ansichten des Barons und der Diva übereinstimmten.
Plötzlich stieß Evelina ihren Vater an. »Da kommt Max. Er hat Larissa mitgebracht.«
Wilhelm von Poser – schlank, grauhaarig und mit herrschaftlicher Gebärde – folgte ihrem Blick zur Tür und nickte. »Ich habe ihn darum gebeten.«
»Ich denke, du magst sie nicht?« fragte Evelina und kümmerte sich nicht darum, daß die Diva, ihre Sekretärin und der alte Husar jedem Wort begierig lauschten.
»Wir werden uns an sie gewöhnen müssen, nicht wahr?« Ihr Vater löste sich mit einer leisen Entschuldigung aus der Gruppe und trat seinem Sohn und dessen Braut entgegen.
Max bemerkte schon von weitem, wie sein Vater durch das Gewimmel der Gäste auf ihn zukam. Sie sahen sich nicht mehr allzu häufig, seit seine Mutter vor drei Jahren gestorben war, und das, obgleich es an Einladungen in die elterliche Villa nicht mangelte. Ihr Verhältnis war keineswegs das beste; das hatte mit Larissa zu tun, aber nicht allein. Es gab zu viele Punkte, in denen sie unterschiedlicher Meinung waren.
Inmitten von Prominenten aus Berlins Oberschicht, Tischen voll von teurem KPM-Geschirr, Kaviarmessern, Hummergabeln und Decken von F.V. Grünfeld, Berlins renommiertestem Leinengeschäft, trafen Vater und Sohn aufeinander. Ein Chefkoch mit weißer Mütze, angemietet vom Kempinski, balancierte ein Silbertablett um sie herum; seine
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