Hex
Hoffnungslosigkeit. Frauen boten sich aus Not in halbdunklen Straßen den Reichen und Devisenausländern an, und manchmal, wenn man nachts entlang der Spree spazierenging, konnte man die Schreie der Ertrinkenden hören. Viele nahmen sich in diesen Tagen aus Kummer und Sorge das Leben.
Die große Inflation lag erst drei Jahre zurück, und nur wenige hatten so viel Gewinn daraus gezogen wie Max’ Vater. Die Katastrophe hatte sich lange abgezeichnet, doch niemand hatte voraussehen können, daß sie mit solcher Wut über das Land hereinbrechen würde. Als es soweit war, war es für alle Versuche, das Unglück abzuwenden, zu spät gewesen. Der Wert einer Mark war innerhalb eines einzigen Tages auf die Hälfte gesunken, dann auf ein Zehntel, Hundertstel, Tausendstel. Schließlich hatte ein Laib Brot Milliarden gekostet. Die kleinen Angestellten und Arbeiter konnten sich für ihren Lohn am Ende des Monats nichts mehr kaufen, weil schon der Preis eines Liters Milch ihr Einkommen überstieg, und ihr Gespartes war von heute auf morgen wertlos. Die Betriebe gingen dazu über, Gehälter und Löhne erst wöchentlich, schließlich täglich auszuzahlen, um sie dem Wertverlust anzupassen. Geschäftsleute brachten ihr Geld jeden Nachmittag zur Bank, um fremde Währungen einzukaufen, vor allem Dollar, Pfund und Schweizer Franken. Menschen, die Geld verliehen hatten, wurden zugrunde gerichtet, weil die Rückzahlungen nichts mehr wert waren; umgekehrt profitierten jene, die Schulden abzahlen mußten.
Für Spekulanten und Glücksjäger eröffnete die Inflation völlig neue Wege der Bereicherung. Gewitzte Industrielle begannen, ganze Konzerne, Schiffahrtslinien, Ladenketten und Häuserblocks aufzukaufen, schlossen Verträge ab über viele Millionen, um sie ein paar Wochen später zu bezahlen, wenn sie nur noch Groschen wert waren.
Einer von ihnen war Max’ Vater gewesen. Die Familie war schon vor ’23 gutgestellt gewesen, aber die Inflation, die soviel Unglück über die kleinen Sparer gebracht hatte, hatte Wilhelm von Poser zum Herrscher eines Wirtschaftsimperiums gemacht. Er besaß Dutzende Mietshäuser in Berlin und einigen anderen Reichsgroßstädten, eine Reihe gutgehender Restaurants und eine Zulieferfabrik für Automobilteile. Sein größter Wurf aber war im Dezember 1923 der Erwerb zweier Ostsee-Werften gewesen, für einen Preis, der drei Jahre später, nachdem sich der Geldwert wieder stabilisiert hatte, dem Wert eines Kleingartens entsprach. Nicht einmal Max vermochte abzuschätzen, wie groß das Vermögen seiner Familie tatsächlich war. Er wußte nur, daß es irgendwann ihm und seiner jüngeren Schwester Evelina gehören würde.
Max bog auf den Kurfürstendamm. Es war abzusehen, daß sich die beliebte Wohnstraße in wenigen Jahren zum Geschäftsviertel entwickeln würde. Einige der alten Häuser waren eingerüstet, und riesige Plakate verkündeten großspurig, was einst daraus werden sollte. An einigen Stellen, wo Theater und Filmpaläste entstehen sollten, hatte man mit Abrißarbeiten begonnen.
Noch aber war von all dem wenig zu erkennen. Die Mieten bewegten sich in vernünftigem Rahmen, und sogar Larissa konnte ihre zwei Zimmer unterm Dach von ihren kümmerlichen Gagen bezahlen. Max hatte einmal den Versuch unternommen, ihr Geld zu schenken; danach hatte sie zwei Tagen empört nicht mit ihm gesprochen. Der Gedanke, in eine steinreiche Familie einzuheiraten, mißfiel ihr noch immer. Ihre Eltern waren unbeugsame Sozialisten und hatten ihre Überzeugung an Larissa weitergegeben. Max sympathisierte insgeheim mit den Zielen der Linken, aber er würde sich niemals offen dazu bekennen können, nicht, solange sein Vater lebte und Evelina nur darauf wartete, ihm neue Schauergeschichten über ihren Bruder zuzutragen.
Der Kudamm war dichtbefahren, selbst um diese Zeit, trotzdem war es nicht schwierig, einen freien Platz für das Automobil zu finden. Max parkte den Wagen direkt vor dem Haus, in dem Larissa wohnte. Der Straßenlärm war im Auto kaum leiser als draußen, die Dichtungen taugten nicht viel. Als er ausstieg, blieb Max einen Augenblick lang benommen stehen. Die vorbeirauschenden Lichter im Dunkel irritierten ihn. Er war kein besonders guter Automobilist, und bei Nacht machten ihm die Scheinwerfer der entgegenkommenden Fahrzeuge zu schaffen. Wann immer möglich, überredete Larissa ihn, zu Fuß zu gehen. Sie selbst hegte eine erhebliche Abneigung gegen Fahrten in Max’ Wagen, spätestens seit er sie beide nur um
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