Hex
Finger seiner Linken packten den Würfel.
Hinter ihm klirrten die Gitter. Sein Kopf ruckte herum. Eine Gestalt schälte sich aus der Dunkelheit, raste auf ihn zu. Max stieß sich ab, federte aus der Hocke nach oben, drehte sich um. Zu spät. Der andere war schon heran.
»Sina!« entfuhr es ihm erleichtert.
Sie blieb zwei Meter vor ihm stehen. »Wen hast du erwartet?« fragte sie spröde. »Deine Braut?« Auch sie hielt ihre Waffe in der Hand. Ihre Beine waren nackt. Sie hatte sich notdürftig eine lange Bluse übergestreift.
»Was hast du da?« fragte sie und wies mit einem Kopfnicken auf den Würfel in seiner linken Hand.
»Lag auf dem Gang. Irgendwer hat es verloren – oder stehengelassen.«
Sina schaute sich in der Finsternis um. »Ist er fort?«
»Wer immer es war, er hatte wahrscheinlich genug Zeit, um über eine der Leitern zu verschwinden.«
Der Gedanke, aus der Schwärze beobachtet zu werden, behagte Sina ebensowenig wie ihm. »Laß uns zurückgehen.«
Max nickte und trat neben sie. Er hielt den Würfel näher an eine der Notleuchten am Geländer. Der goldene Stern blitzte auf. Max klappte die Oberseite mit dem Daumen hoch. Sie ließ sich mühelos öffnen.
»Max...!«
Sinas Warnung kam zu spät. Etwas schnellte aus dem Würfel hervor, direkt auf sein Gesicht zu. Reflexe übernahmen sein Handeln. Mit einem Ruck schleuderte er den Würfel über die Brüstung ins Dunkel. Im letzten Moment sah er noch die Papierschlange, die daraus hervorhing. An ihrem Ende baumelte ein Hindenburgkopf aus Pappmache. Der gewaltige Schnauzbart zitterte im Luftzug. Dann verschwand der Würfel im Abgrund.
Max’ Schrecken löste sich in einem nervösen Lachen. Er blickte sich zu Sina um, wollte etwas sagen – und erschrak nur noch mehr, als er ihr Gesicht sah.
Im Halblicht der Stegbeleuchtung glänzte ihr Gesicht in kreidigem Weiß. Ihre Züge waren in einem Ausdruck völligen Entsetzens erstarrt.
Mit zwei Schritten war er bei ihr, packte sie an den Schultern.
»Sina, um Himmels willen!«
Sie blinzelte ihn an, als erwache sie nur langsam aus einem Alptraum.
»Was ist los?« fragte er und vergaß darüber jegliche Vorsicht. In diesem Moment wären beide einem Angreifer hilflos ausgeliefert gewesen.
Doch es kam zu keinem Angriff. Nichts rührte sich. Der Lauscher war fort.
»Es... es geht schon«, brachte sie mühsam hervor.
Max hatte sie noch nie so angeschlagen, so durch und durch erschüttert erlebt. Nur wegen eines Scherzartikels? Nein, natürlich nicht.
»Was hast du gesehen?« fragte er sanft. Seine Hände lagen noch immer auf ihren Schultern. Sie trat einen zaghaften Schritt zurück und löste sich von ihm, zog ihre Unterarme vor die Brust, legte den Kopf schräg und blickte fast verträumt dem Würfel hinterher. Er mußte längst irgendwo aufgeschlagen sein.
Sie ist traumatisiert, dachte er. Das war nicht die burschikose, überlegene Sina, die er kannte. Sie stand nur noch da wie ein verstörtes Kind.
Und dann, von einer Sekunde zur anderen, war sie wieder sie selbst. Fast.
»Ich will gehen«, flüsterte sie mit schwankender Stimme.
Er eilte hinter ihr her und hielt sie fest, ganz vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken.
»Was war los?«
»Es war nichts. Gar nichts.«
Ihre Blicke trafen sich; es gefiel ihm nicht, was er in ihren Augen las. »Schreib das in deinen Bericht, aber sag mir die Wahrheit. Es betrifft uns doch beide, oder?«
Sie löste sich von ihm und spähte an ihm vorüber in die Dunkelheit. »Ich weiß es nicht«, gestand sie schließlich. »Vielleicht irre ich mich. Es sind nur ein paar böse Erinnerungen.« Ihr Blick schwenkte fahrig über den Trägerdschungel, der sie umgab. Und wieder erschien diese Furcht in ihren Augen, die Panik eines verängstigten Tieres.
Ihr Anblick erfüllte Max mit einer Hilflosigkeit, die fast schmerzhaft war. Es fehlte nicht viel, und sie würde in Tränen ausbrechen – oder mit ihrer Waffe ziellos ins Dunkel feuern.
Da nahm er sie bei der Hand und zog sie mit sich. Nicht zurück zu den Kabinen, sondern in die entgegengesetzte Richtung, zur Bugspitze. Er wußte, ohne je an Bord der Polar gewesen zu sein, daß es dort einen Ort gab, der sie beruhigen würde. Es gab ihn auf jedem Schiff.
Wenigstens hoffte er das.
Der Magier kauerte inmitten der Verstrebungen aus Aluminium und Kunststoff, hoch oben wie eine Spinne im Netz, jede Hand und jeden Fuß auf einem anderen Träger, einer Stange, einem Kabel. Er blickte auf die beiden hinab und versuchte,
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