Hex
kommend über die Küste und ließ sie frösteln. Beide zogen ihre Mäntel enger und stopften ihre Schals tiefer in die Ausschnitte. Die Temperatur mußte knapp über dem Gefrierpunkt liegen, doch die Winde waren deutlich kälter. Dabei lag Nuuk noch in einer der mildesten Regionen des Landes.
Die Fahrt bis zum Stadthafen dauerte etwas über eine halbe Stunde. In einigem Abstand folgten weitere Boote, mit denen die übrigen Passagiere nach Nuuk gelangten.
Dorn schien es sich zum Ziel gemacht zu haben, sie in kürzester Zeit über alle Mißstände Grönlands aufzuklären. »Seit einem Jahr«, erklärte er verächtlich, »ist Dänisch die offizielle Landessprache. Die hohen Herren in Kopenhagen haben sich das fein ausgedacht. Der Unterricht an den Schulen wird vollkommen umgekrempelt. Man bleut den Eskimos die europäische Kultur jetzt mit dem Vorschlaghammer ein. Eine verfluchte Schande ist das! Seit Jahrhunderten versuchen missionierende Theologen wie ich die Sprache der Inuit zu erforschen und zu pflegen, und was tun die Politiker? Sie machen mit einem einzigen Gesetz alles kaputt! Idioten und Halsabschneider sind das, sage ich Ihnen. Idioten und Halsabschneider.«
So ging es weiter, über die Reform des alten Gemeindewesens, über die Leitung der Landesverwaltung, die allein in der Hand eines einzigen dänischen Direktors lag, und über das schwankende Verhältnis der Kolonisatoren zu den einheimischen Nomadenstämmen. Der Pfarrer redete ohne Unterlaß, aber nicht einmal kam er dabei auf den Grund von Max’ und Sinas Aufenthalt in Grönland zu sprechen. Er tat fast so, als seien die beiden nur zum Vergnügen angereist, und er selbst sei nichts als ein Fremdenführer, der ihren Aufenthalt so angenehm und lehrreich wie möglich gestalten wollte.
Erst als sie anlegten und Dorn sie über die breite Hafenstraße nach Norden zu seinem Haus führte, kam er auf den weiteren Verlauf ihres Unternehmens zu sprechen. »Sie haben Glück«, sagte er, »es ist mir gelungen, schon für morgen jemanden zu finden, der sie nach Ittoqqortoormiit fliegt. Sein Name ist Legrand, ein Franzose und ein alter Bekannter von mir, der mit seiner F13 die kleinen Siedlungen rund um die Küste beliefert. Wissen Sie, wenn es hier nach den offiziellen Lebensmittel-Richtlinien ginge, würde man den Fischern nicht mal einen guten Tropfen gönnen. Sicher, es gibt dänischen Branntwein und andere Scheußlichkeiten, aber wer einen echten Scotch oder Bourbon trinken will, der wendet sich an meinen Freund.«
Max konnte sich gut vorstellen, daß auch Dorn die Dienste seines Freundes gerne und häufig in Anspruch nahm.
»Sie haben ihm doch nicht etwa verraten, weshalb wir hier sind, oder?« fragte Sina, der die Redseligkeit des Pfarrers unangenehm war.
Dorn schüttelte übertrieben heftig den Kopf. »Ich habe nicht vergessen, wer Sie hergeschickt hat. Darüber redet man nicht offen. Aber, sehen Sie« – er deutete über die Straße hinweg zu einem Mann auf der hölzernen Veranda eines Lebensmittelladens – »der Kerl dort, der weiß, warum Sie hier sind. Und er weiß es nicht von mir. Wirkliche Geheimnisse gibt es in einem Kaff wie diesem nicht.«
Max und Sina starrten mit zusammengekniffenen Augen zu dem Mann hinüber, der unter dem Vordach des Ladens an einem Holzpfahl lehnte. Er war dickvermummt wie sie selbst und strohblond. Sein Gesicht war in der Entfernung nicht zu erkennen.
»Wer ist das?« fragte Max argwöhnisch.
Dorn wirkte amüsiert. »Ich weiß nicht, wie er heißt. Es gibt Dutzende von seiner Sorte in Nuuk und sicher auch in den anderen Städten. Sie sitzen oder stehen einfach da und beobachten die Menschen. Der dänische Direktor zahlt ihnen zweifellos eine hübsche Stange Geld – nur fürs Herumstehen. Sie beide werden solchen Typen noch öfter begegnen.«
»Fürchten die Dänen ausländische Besucher so sehr?« erkundigte sich Sina stirnrunzelnd.
»Nein, nicht die Ausländer«, entgegnete Dorn und schnaubte abfällig. »Nur die Einheimischen. Aber natürlich ist das alles Unsinn. Die Inuit würden sich niemals gegen die Kolonialherren stellen, wenigstens nicht mit Gewalt. Aber die Dänen hier oben leiden unter Verfolgungswahn. Und angesichts des ganzen Ärgers, den sie mit den Norwegern haben, kann man ihnen das kaum verübeln.«
Der Blick des Mannes auf der Veranda folgte ihnen betont unauffällig.
Max starrte stur zurück. »Warum interessiert der sich dann so für uns?«
»Ach, dafür wird er doch bezahlt. Alles sehen,
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