Hexenerbe
dass sich etwas in ihren Geist drängte, eine Präsenz wie ein Schatten, der sich über sie beugte. Doch als sie sich umschaute, war da nichts. Ihr wurde kalt, sie begann zu zittern und bekam eine Gänsehaut an den Armen.
Dann schlüpfte die Kälte in sie hinein, als hätte sie ein ganzes Glas voll Eis verschluckt.
Vor ihr stand Isabeau, deutlicher und greifbarer als je zuvor. Sie gehörte wohl noch nicht ganz zur materiellen Welt, aber mehr als früher.
Sie steht nicht wirklich vor mir, erkannte Holly. Nur vor meinem geistigen Auge.
Eine verschleierte Frau trat neben Hollys Ahnherrin.
Hekate, dachte Holly.
Die Göttin in ihrer Gestalt als höchste Gottheit der Hexen neigte hoheitsvoll den Kopf.
Wir können dir helfen, sagte Isabeau. Michael Deveraux hat diese Kreaturen geschickt, die euch jagen und töten sollen. Ohne deine Hexenschwestern bist du ihm nicht gewachsen.
»Holly, hilf uns!«, brüllte Dan. »Tu endlich etwas, verdammt noch mal!«
Holly blinzelte, und es war, als könnte sie den Raum nun durch Isabeau und Hekate hindurch sehen. Ihr war klar, dass der Kampf immer heftiger tobte und ihre Seite ihn verlieren würde.
Du willst nur mehr von mir, warf Holly Isabeau vor. Du willst, dass ich ein weiteres Opfer darbringe und mich noch tiefer in Hekates Dienst begebe ... Hast du selbst irgendeinen Handel mit ihr geschlossen?
Isabeau antwortete nicht, doch ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, und ihre Augen glitzerten.
Ein gewaltiges Krachen war zu hören, dann noch eines. Holly starrte durch die beiden Frauen hindurch auf drei riesige schwarze Schemen, die in den Raum platzten, nachdem sie zwei Wände durchbrochen hatten. Sie waren etwa zweieinhalb Meter groß und mit dicken Schuppen bedeckt. Ihre Augen glühten rot, und an ihren Fingern saßen Klauen so lang wie Sensen.
Einen Moment lang blieben sie in einer Reihe stehen, dann stürzten sie sich auf Holly, Dan und Cecile.
Ohne zu überlegen, riss Holly die Hände hoch und donnerte: »Hinfort!«
Der Raum explodierte. Flammen, Wirbelwind, ein tosender Strudel aus Wasser und Stein ... all das kreiselte rasend schnell um Holly herum, als so starke Energie durch ihren Körper schoss, dass sie krampfhaft zuckte. Ihre Augen verdrehten sich, und sie schrie etwas in einer seltsamen Sprache, die sie nicht einmal kannte. Sie trudelte orientierungslos durch das Chaos, und ihr ganzer Körper zischte und knisterte. Ihr Haar stand in Flammen, und auf ihren Wimpern tanzten Funken. Ihre Zähne rauchten. Blaue Flammen wanden sich über ihre Haut.
Jemand schrie immer wieder ihren Namen.
Die Schatten schnappten nach ihr und brüllten vor Zorn ...
... Klauen schlugen nach ihr, verfehlten sie, und ...
Holly kam auf Händen und Knien im nassen Sand wieder zu sich.
Sie hob den Kopf und öffnete die Augen.
Es war Nacht, und sie befand sich an einem Strand. Tante Cecile lag neben ihr auf dem Rücken. Dan lag auf der Seite, Cecile zugewandt, und die Wellen schwappten über ihn hinweg. Holly blickte sich um und entdeckte Onkel Richard auf der Motorhaube eines Wagens auf einem Parkplatz etwa sieben Meter hinter ihr. Er hob den Kopf und sah sie an.
Langsam begannen auch die beiden anderen sich zu rühren. Cecile richtete sich vorsichtig auf, Dan rollte sich auf den Bauch und schrie erschrocken auf, als sich eine Welle auf seinem Rücken brach. Dann hockte er sich auf die Fersen und richtete sich schwankend auf.
»Was hast du getan?«, fragte Cecile Holly, und ihre Stimme überschlug sich. Sie starrte Holly mit weit aufgerissenen Augen an.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Holly ehrlich. Aber was ich auch getan habe, ich habe es ganz allein geschafft, dachte sie staunend und befriedigt. Ich habe der Göttin diesmal nichts geopfert.
Sie stand auf. »Gehen wir«, befahl sie den anderen.
»Wohin?«, fragte Cecile. »Nach Seattle?«
»Zuerst ins Krankenhaus«, antwortete Holly. »Zu Barbara.«
»Natürlich.« Cecile erhob sich. Sie betrachtete Holly und sagte: »Du hast deine Macht entfesselt. Ich kann sie sehen. Sie funkelt um dich herum.«
Holly blickte auf ihre Hände hinab. Ein blauer Schimmer leuchtete auf ihrer Haut und löste sich langsam auf.
Haben Isabeau und Hekate mich irgendwie blockiert, damit ich die Göttin um Hilfe anrufen musste?, fragte sie sich. Damit ich ihr weiterhin Opfer darbringe?
Sie ließ die Hände sinken. »Du hast recht«, sagte sie zu Cecile.
Nachdem sie von einer Telefonzelle aus ein Taxi gerufen hatten, ließen sie sich in die
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