Hexengericht
sie die Kirchenmauer, sprangen darüber hinweg und stürzten durch das offene Portal in das Innere der kleinen Kirche. Diffuses Licht empfing sie, und es roch nach Staub und Moder. Eilig durchquerten sie das Mittelschiff und hielten dann im Querschiff inne. Unter einer prächtig gearbeiteten und in strahlende Farben gehüllten Madonnenfigur, die hoch über dem Altar hing, schlug Raphael kniend drei Kreuze. Zur Rechten wies eine kleine Tür hinaus ins Freie. Lazare öffnete sie einen Spalt.
»Könnt Ihr etwas sehen?«, fragte Raphael.
»Sssch«, machte Lazare. Er zog den Kopf zurück und schloss die Tür. »Der Weg scheint frei zu sein«, sagte er. »Ihr seid bereit?«
»Gewiss«, sagte Raphael.
Noch einmal spähte Lazare durch die Tür. »Auf!«
Hintereinander stürmten sie hinaus. Vor ihnen lag wieder eine ausgedehnte Wiese, an deren Ende das Ziel gut zu erkennen war.
Nach dreihundertdreiunddreißig Schritten drangen sie in die nächste Kirche ein. Auch hier herrschte diffuses Licht, und es roch modrig und staubig.
»Jetzt ist es nicht mehr weit.« Lazare atmete tief durch. Er öffnete die kleine Tür im Querschiff und streckte den Kopf hinaus.
Raphael stand neben ihm und wartete auf das Kommando. Plötzlich drang ein seltsam schmatzendes Geräusch an sein Ohr. »Habt Ihr das gehört?«
Keine Antwort.
»Was ist los?«
Lazare stolperte ein paar Schritte in das Querschiff zurück. Seine Augen starrten nach vorn. Von Raphael nahm er keine Notiz.
»Lazare? Was ist mit Euch? Hört Ihr mich nicht?«
Dann entdeckte Raphael etwas Glänzendes, das aus Lazares Bauch zu wachsen schien. Er erschrak. Ein breites Schwert steckte tief in Lazares Eingeweiden. Blut quoll über die Klinge. Die Hand, die den Griff umfasste, gehörte dem Hauptmann. Grinsend trat er über die Schwelle in das Querschiff.
»Allmächtiger!«, platzte es aus Raphael heraus.
Der Hauptmann lachte wüst. »Warte, Bürschchen. Bist auch gleich dran.« Er wollte das Schwert aus Lazares Rumpf ziehen, aber dieser packte mit beiden Händen die Klinge. Sosehr der Hauptmann auch zog und zerrte, Lazare war noch im Todeskampf stärker.
Langsam wandte Lazare den Kopf zu Raphael. »Die … die … die Axt!«, presste er hervor. Er hatte die Axt fallen lassen. Sie lag zu Raphaels Füßen.
»Was …?«
Gurgelndes Husten drang aus Lazares Kehle. Er spuckte Blut. »Schlagt dem Bastard den Schädel ein!«
Wie betäubt stand Raphael mit aufgerissenem Mund da. Er konnte nicht begreifen, was da vor seinen Augen geschah. Eben noch waren sie fast gerettet. Und einen Wimpernschlag später war Lazare aufgespießt. Noch dazu verlangte er von ihm, Raphael, dass er einen Menschen tötete.
Lazare schwanden die Kräfte. »Verdammt, Raphael!«, röchelte er. »Nehmt die verfluchte Axt!«
Die Welt um Raphael herum schien auf einmal weich wie Wolle zu sein. Es war, als würde er über allem schweben und sich selbst beobachten, wie er dort unten regungslos stand. Plötzlich sah er, wie der Raphael dort unten langsam die Axt aufnahm und sie über seinen Kopf hob. Der Hauptmann schrie auf und ließ das Schwert los. Lazare stürzte rückwärts zu Boden. Die Zeit schien auf einmal stillzustehen. Dann leitete Raphael all seine Kraft in den Schaft der Axt und ließ sie auf den Hauptmann niedersausen. Es klang wie das Bersten eines Klafters Holz, als die Klinge den Kopf des Hauptmanns spaltete. Blut spritzte in alle Ecken des geweihten Ortes.
In diesem Moment erwachte Raphael. Er war wieder er selbst. Ohne den Hauptmann, der in der offenen Tür lag, weiter zu beachten, stürzte er zu Lazare. Er zog das Schwert aus dessen Leib und warf es fort. Mit einer Hand hob er Lazares Kopf hoch. Trotz der Schmerzen gelang Lazare ein Lächeln. »Es …«, stammelte er. »Es … es war …«
»Nicht sprechen, guter Lazare«, flüsterte Raphael. »Nicht sprechen.« Mit der freien Hand strich er die verschmierten Haare aus Lazares Stirn.
Wie ein erleichtertes Seufzen drang der letzte Atemzug aus Lazares Kehle. Sein Kopf kippte zur Seite.
Raphaels Lippen bebten. Er spürte, wie seine Hände, wie sein ganzer Körper zitterte. Der unnütze Tod dieses guten Mannes traf ihn tief. Trauer und Leid paarten sich mit der ungezügelten Wut und dem Hass auf diese teuflischen Ritter und Henri le Brasse, ohne den so mancher gute Mensch noch leben würde. Wie viele würden es noch sein, fragte er sich. Wie viele mehr würden ihr Leben lassen müssen, bis die Unmenschlichkeit der Inquisition ein Ende
Weitere Kostenlose Bücher