Hexengericht
hatte? Bis Rechtlosigkeit und Gewalt von selbst ernannten Richtern und Henkern nicht mehr in Städten und Dörfern wüten konnte?
Laute Rufe schreckten Raphael auf. Die Männer des Hauptmanns näherten sich. Er strich noch einmal über Lazares Gesicht und legte dessen Kopf vorsichtig auf den Boden der Kirche. Dann ging er zur Tür und sah fünf oder sechs Reiter, die sich der Kirche näherten. Er hetzte zurück durch die Kirche, verließ sie durch das Hauptportal und hielt sich links. Von der anderen Seite hörte er, wie die Männer abstiegen und durch die kleine Tür im Querschiff die Kirche betraten.
Jetzt oder nie, dachte Raphael. Schnell und geschickt wie ein Wolf lief er dem Waldrand entgegen, der keine tausend Schritte entfernt war. Mit jedem Schritt kamen die rettenden Bäume näher. Er hörte noch, wie die Ritter brüllend in die Sättel stiegen, um ihn zu verfolgen, doch da hatte er die rettenden Büsche und Bäume schon erreicht.
Eine Weile irrte er orientierungslos durch den Wald. Seine Gedanken kreisten um Lazare und den Hauptmann – den ersten Menschen, den er getötet hatte. Und er betete, dass es der letzte war.
Allmählich wichen die dunklen Gedanken aus Raphaels Kopf. Im Osten glänzten die ersten Schimmer der aufgehenden Sonne. Das schwache Licht wies ihm den Weg zum Lager. Hoch droben in den Wipfeln stimmten die Vögel die ersten Lieder des neuen Tages an. Die Freunde würden längst warten. Durch blasse Nebelschwaden, die ihm bis zu den Knien reichten, watete er über moosbedecktes Geröll und durch feuchte Farne. An einem markanten Felsen, der neben einer umgestürzten Buche stand, erkannte er, dass er auf dem richtigen Weg war. Von hier aus war es nicht mehr weit.
Plötzlich hörte er in der Ferne Männerstimmen. Sofort warf er sich zu Boden. War es möglich, dass die Ritter ihr Lager aufgespürt hatten? Waren die Freunde längst gefangen?
Da hörte er hinter sich ein Knacken. Jemand war in seiner Nähe! Er wandte den Kopf und sah einen dunklen Schatten auf sich zueilen, und noch ehe er aufstehen und fliehen konnte, presste sich eine große Hand auf seine Lippen. »Keine Angst«, flüsterte eine wohl bekannte Stimme. »Ich bin es – Amicus.« Er gab Raphaels Mund wieder frei.
»Amicus!«, flüsterte Raphael erleichtert. »Seid Ihr allein?«
»Nein«, sagte Amicus. »Jeanne und Pierre sitzen unweit gut versteckt in einer Erdmulde.«
»Wo ist Luna?«
Amicus senkte den Kopf. »Sie ist noch nicht zurück.«
»Sie ist klug und geschickt«, sagte Raphael. »Und Giacomo ist ein Ross, das seinesgleichen sucht. Ich kann nicht glauben, dass irgendwer die beiden zu fangen vermag.«
»Hätt ich Wein, ich würde darauf trinken.«
»Später.« Raphael lächelte. »Nun führt mich zu Jeanne und Pierre.«
Am Rand zweier mächtiger Eichen hatten Wind und Wetter die Wurzeln freigelegt und eine mannshohe Vertiefung gespült, in der fünf Menschen reichlich Platz hätten. Jeanne sprang auf, als sie Raphael erblickte. Er umarmte sie. Pierre gab er freudestrahlend beide Hände zum Gruß. »Gott sei es gedankt«, sagte er. »Ihr seid wohlauf.«
»Wir dachten, Ihr wäret nicht mehr aus dem Dorf entkommen«, sagte Pierre.
»Es war ein beschwerlicher Weg«, sagte Raphael. In wenigen Worten schilderte er seine Flucht. Die Geschehnisse um Lazare verschwieg er. Warum, wusste er selbst nicht. Vermutlich wollte er sie einfach aus seinen Erinnerungen sperren. Er versuchte ein Lächeln. »Gott sei Dank ist alles gut gegangen.«
»Bis ich Euch einen gehörigen Schrecken eingejagt habe«, ergänzte Amicus.
»Fürwahr«, lachte Raphael unterdrückt. Dann wurde er schlagartig ernst. »Habt Ihr Imbert gesehen?«
»Um den Bastard braucht Ihr Euch nicht mehr sorgen«, sagte Amicus.
»Ich verstehe nicht.«
»Ich habe ihm sein eigenes Messer in sein verfluchtes Herz gerammt. Ist das deutlicher, Bruder?«
Raphael schüttelte den Kopf. Imbert tot? Ihr gefährlichster Gegner, der sie über Monate hinweg durch ganz Frankreich gejagt hatte, lebte nicht mehr? »Wo ist er?«
»Etwa zweihundert Schritte rechts von uns«, erklärte Amicus.
»Ich will ihn sehen«, sagte Raphael.
»Wir sollten warten, bis die Ritter fort sind«, warf Jeanne ein.
Sie kletterten an den Baumwurzeln hoch und sahen, wie die Ritter den Wald in entgegengesetzter Richtung verließen.
»Verdammt!«, fluchte Amicus.
»Was hast du?«, fragte Pierre.
»Siehst du es nicht? Sie nehmen unsere Pferde mit.«
»Und damit all unser Gold«, sagte
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