Hexengericht
diesem unmenschlichen Treiben ein Ende zu setzen.
» Ferrum candens «, verkündete Henri in diesem Moment. »Die Feuerprobe.«
»Nein!«, schrie Anne. Sie lag zusammengekauert auf dem kalten Boden und zitterte.
Der Henker holte mit einer Zange ein glühendes Stück Eisen aus dem Kamin. »Streck deine Hände aus!«
Anne versteckte ihre Hände unter ihrem geschundenen Körper.
»Streck deine Hände aus!«, wiederholte der Henker und trat ihr dabei kräftig in die Rippen.
Anne schrie auf. Zitternd hielt sie ihre Hände hin.
Der Klotz ließ das glühende Eisen in Annes Hände fallen. Achtlos warf er die Zange in die Ecke und presste Annes Hände um das Eisen zusammen. Sie brüllte, schlug mit den Beinen um sich und versuchte, der sengenden Umklammerung zu entkommen. Dann schenkte ihr der Schmerz gnädige Bewusstlosigkeit.
Nun konnte Raphael nicht mehr tatenlos zusehen. »Ehrwürdiger Vater«, rief er. »Im Namen Christi ersuche ich Euch …«
»Schweigt!«, fuhr ihn der Prior an. »Weck sie auf!«, befahl er dem Henker.
Der Henker holte einen Eimer Wasser und schüttete ihn auf Annes Kopf aus. Sie erwachte und sah sich benommen um. Dann kehrte die Erinnerung zurück. Entsetzt kroch sie fort von den Teufeln in Menschengestalt. Raphael wollte auf sie zustürzen, aber der Henker war schneller. Er packte sie an einem Bein und schleifte sie quer durch die Folterkammer zurück.
»Wir verlassen den Hexenturm für die letzte Probe«, sagte Henri. » Ordale judicium aquae frigidae . Das Gottesurteil des kalten Wassers.« Er warf dem Henker einen stummen Blick zu.
Der griff nach Anne und schleppte sie wie einen Sack Mehl aus der Folterkammer, die Stufen hinauf und aus dem Hexenturm hinaus. Sofort zogen sie die Aufmerksamkeit der Bürger auf sich.
Kaum an der Burg vorbei, zog die seltsame Prozession einen Strom belustigter Gaffer hinter sich her Richtung Seine. Henri schritt ihnen hoch erhobenen Hauptes und mit ernster Miene voran. Raphael wollte zu Anne, die der Henker halb bewusstlos durch die dreckigen Gassen schleifte. Eine Gruppe rauflustiger Jungen, kaum älter als Luna, lief lachend neben dem Henker her. Sie bedachten Anne mit hämischen Bemerkungen, bespuckten sie und bewarfen sie mit Steinen. Als Raphael sie scharf zurechtwies, lachten sie nur und liefen weiter – dem nächsten Zeitvertreib entgegen. Es waren dumme Jungen, die es nicht besser wussten. Doch was ihn wahrhaft zornig machte, war der Anblick der johlenden Menge, die ihnen folgte. Sie taten es jetzt den Jungen gleich und beschimpften und bespuckten Anne. Sie warfen fauliges Gemüse, Eier und schwere Steine. Einer traf Anne an der Schläfe, und sie brach zusammen. Raphael rannte zwischen dem Gesindel umher, um sie von ihrem Tun abzuhalten, er wetterte gegen sie mit Bibelsprüchen und drohte ihnen das Höllenfeuer an, so sie nicht aufhörten mit diesem unchristlichen Benehmen. Plötzlich traf ihn ein spitzer Stein am Hinterkopf. Er strauchelte, fiel auf ein Knie und rappelte sich wieder auf. Blutend wankte er auf den Henker zu, packte ihn am Arm und riss ihm Anne aus den Pranken. Er legte seine Kukulle ab, schlug sie der nackten Frau um den Körper und hob sie auf seine Arme. So trug er sie bis zum Fluss.
Von alledem hatte Henri nichts bemerkt. Kaum stand er an der Seine, lief der Henker zu ihm und deutete auf den jungen Mönch, der Anne fest in seinen Armen hielt. Henri rümpfte die Nase und zeigte auf den Boden vor seinen Füßen. Sanft, beinahe zärtlich, setzte Raphael die Frau vor seinem Prior ab.
Zu beiden Seiten des Seineufers und auf einer nahe gelegenen Brücke waren die Schaulustigen versammelt. Sie zeigten auf Anne, lachten und scherzten miteinander. Vom nahe gelegenen Markt her kamen einige Händler und boten ihre Waren feil. Sie machten ein gutes Geschäft an diesem kalten Tag.
Kurzerhand benutzte der Henker einen am Fluss montierten Kran, der zum Entladen der Schiffe diente. Grinsend nahm er ein Seil zur Hand, schlurfte zu Anne, die zitternd im Dreck lag, und riss ihr unter Jubelrufen Raphaels Mantel vom Leib. Er band der Angeschuldigten den linken Daumen an die rechte große Zehe und den rechten Daumen an die linke große Zehe. Um ihren Leib schlang er ein weiteres Seil. Anne ließ es apathisch geschehen. Dann trug er die nackte Frau hinüber zu dem Kran. Mit wenigen Handgriffen war Anne am Seilzug befestigt. Der Henker schaute zu Henri – der nickte kurz. Der Henker zog fest an dem Seil. Anne riss es vom Boden in die Höhe. Der
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