Hexengericht
Versprechungen ein.«
»War das das endgültige Ende?«, fragte Pierre.
»Nein. Erst 1321 wurde der letzte Priester der Katharer, Guillaume Belibaste, in eine Falle gelockt und verbrannt.«
»Offensichtlich war das nicht das Ende«, wandte Amicus ein.
»Es gab seit jeher Gerüchte, dass die Albigenser niemals ausgestorben seien«, fuhr Raphael fort. »Dass viele überlebt hätten und ihren Glauben seitdem von Generation zu Generation weitergäben. Man spricht von geheimen Zeichen und Symbolen, an denen sie sich untereinander erkennen.«
»Das Idolum an Imberts Arm ist eines davon?«
»Es scheint so, Pierre«, antwortete Raphael. »Es heißt, dass sie noch heute den geheimen Schatz hüten, den furchtlose Männer eines Nachts während der Belagerung von Montsalvat den Steilhang hinunterschafften. Viele Kisten mit Gold, Silber, Juwelen und anderen kostbaren Dingen, sagt man.«
»Hm«, machte Amicus. »Was ich nicht verstehe: Wie ist aus den augenscheinlich gerechten und redlichen Glaubensbrüdern und -schwestern innerhalb von hundert Jahren eine mordlüsterne und menschenverachtende Geheimbewegung geworden?«
Raphael dachte an Henri und Imbert. Die Antwort auf diese Frage stellte womöglich den Schlüssel zur Ausbreitung der Inquisition und ihrer brutalen Methoden dar. Er ging hinüber zu dem kleinen Fenster und schaute hinauf zu den Wolken. Würden sie ihn finden können?
Am nächsten Tag besuchte Constance Luna in deren großzügig ausgestatteter Kammer. Der Boden war mit Bärenfellen bedeckt. Bärenfelle lagen auch auf den Stühlen und der breiten Sitzbank. Das breite Bett war übersät mit prall gefüllten Daunenkissen. Auf dem Tisch standen Obst und Wein.
Luna stand an dem großen Fenster und blickte hinaus. Es sah aus, als würde die Sonne durch sie hindurchscheinen.
»Ich will zu meinen Freunden«, sagte Luna, ohne sich umzudrehen.
»Du kannst sie gewiss bald sehen«, sagte Constance. Sie schloss die Tür und ging in die Mitte der Kammer. »Brauchst du etwas? Brot, Fleisch oder vielleicht Wasser? Sag es, und ich lasse es sofort für dich herschaffen.«
Langsam wand Luna den Kopf. »Ich will hier heraus. Sofort!«
»Das kann nur mein Vater entscheiden.«
»Dann hol ihn hierher!«
»Ich glaube nicht, dass er dich gehen lässt.«
»Warum nicht?«
»Du gefällst ihm.«
»Er mir dagegen überhaupt nicht.«
Verschüchtert spielte Constance mit ihren feuchten Fingern. »Ich bin gekommen, um dir Gesellschaft zu leisten. Sollen wir Blindekuh spielen?«
Jetzt drehte sich Luna um. Das Sonnenlicht umgab sie wie eine glänzende Aura, die Constance nur von Kirchenbildern kannte. Als stünde der Erzengel Gabriel vor ihr! Verschreckt wich sie zurück.
»Ich will nicht spielen«, sagte Luna. »Ich will nicht essen, nicht trinken und mich auch nicht waschen. Ich will sofort aus dieser Kammer, aus dieser Burg und aus dieser Stadt. Verstehst du, was ich sage?«
»Mit der Zeit wird es dir hier gefallen«, sagte Constance. »Es ist gut, auf einer Burg zu leben. Du wirst jederzeit bedient. Niemals wird es dir an etwas mangeln. Wir können immer zusammen sein und lustige Sachen machen. Und mein Vater kann ab und an recht umgänglich sein. Ich habe mir schon so lange eine Freundin gewünscht.«
Wie eine Löwin schlich Luna auf Constance zu, den Kopf gesenkt, die Augen zu Schlitzen verengt, die Hände angriffslustig erhoben. »Was willst du damit sagen?«
»Oh, du weißt es noch nicht?«, fragte Constance. Sie wusste, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Auf der Stelle kehrte sie um und lief auf die Tür zu.
Doch Luna war schneller. Noch bevor Constance die rettende Tür erreicht hatte, hielt Luna sie fest. »Was soll das alles hier? Rede!«
Constance zuckte zusammen, schwieg aber.
Luna hob beide Fäuste. »Rede, oder ich schlage dir deine schiefen Zähne aus dem Mund!«
Tränenüberströmt fiel Constance auf die Knie. »Mein Vater«, schluchzte sie, die Arme schützend über dem Kopf haltend, »will dich zu seinem Weib nehmen. Ich dachte, du wüsstest es längst. Bitte, schlag mich nicht. Bitte.«
Luna senkte die Fäuste. Wie vom Donner gerührt stand sie da. Schließlich half sie Constance auf. »Verzeih mir«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Ich war böse zu dir, dabei hast du es nicht verdient. Hätte dein Vater mir seine Absichten verraten, wäre es nie so weit gekommen.«
Constances Gesicht hellte sich auf. »Heißt das, du gehst nicht fort?«
Lächelnd nickte Luna. »Aber das bleibt unter uns.
Weitere Kostenlose Bücher