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Hexengericht

Hexengericht

Titel: Hexengericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Fandrey
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Sechs Augen starrten auf die hässliche Fratze mit den vier geschlitzten Augen, zwei Mündern und zwei Hörnern.
    Raphael trat an den Schrank heran, strich über das glatte Holz und öffnete die beiden Türen. Zum Vorschein kamen Bündel von Schriftstücken. Darin war Henris Geheimnis verborgen. Dessen war er sicher. Jetzt, wo er dem Ziel so nah war, schien der Boden unter ihm zu schwanken. Er dachte an Raphael und Jeanne und Amicus und an die vielen Orte, die sie bereist hatten. An die unzähligen Menschen, die ihnen begegnet waren. Gute Menschen wie Juda, Lazare und Constance. Hier, an der Mündung des Arkanums der Katharer, ergaben ihre Arbeit und ihre Opfer endlich einen großen, gar göttlichen Sinn. Obgleich sie noch nicht am Ziel ihrer Reise waren, würden sie noch in dieser Nacht den ursprünglichen Grund erfahren. Mit zitternden Händen holte er das oberste Bündel heraus und gab es Luna. Sie begann damit, sie zu studieren, und auch Raphael begann zu lesen.
    Nachdem er drei Bündel Akten durchgesehen hatte, kam er zu den Verhandlungsprotokollen eines Ketzerprozesses aus dem Jahr des Herrn 1308, der zunächst nichts Auffälliges zu enthalten schien. Dann aber stieß Raphael auf die Namen der Angeklagten – und ihm stockte der Atem. Die Liste der Namen war lang; ungewöhnlich lang für einen Inquisitionsprozess. Raphael zählte vierundneunzig Angeklagte. Darunter waren drei Namen, die Raphael in höchste Erregung versetzten: Tristan und Marie le Brasse und ihr achtjähriger Sohn Henri. Sie hatten in einem Dorf namens Montaillou in den Pyrenäen gelebt. Raphael schwitzte. Seine schweißnassen Finger fuhren über die Schriftstücke, seine Augen glänzten fiebrig. Er nahm die Welt um sich herum nicht mehr wahr.
    Am Morgen des 8. September des Jahres 1308, stand dort geschrieben, hatte eine Horde Tempelritter auf Befehl des französischen Königs Montaillou gestürmt. Wer sich wehrte, den metzelten sie auf der Stelle nieder. Als alle Bewohner des Dorfes auf dem Marktplatz versammelt waren, sortierte der Hauptmann der Horde die 94 Angeklagten aus. Anschließend ließ er sie fortschaffen und ihren gesamten Besitz verbrennen. Als Ketzer und Anhänger der katharischen Lehre wurden sie drei Tage später in Carcassonne vor ein Inquisitionsgericht verbracht. Darunter auch der Gerber Tristan le Brasse, seine Frau und der Knabe.
    Hier verlor sich Henris Spur. Tristan und Marie le Brasse sowie alle anderen Ketzer wurden kurz nach dem Prozess auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Die Protokolle sagten jedoch nichts über Henris Schicksal. Aber noch hatten sie längst nicht alle Schriftstücke aus dem Schrank gesichtet. Da das Idolum darauf abgebildet war, wurden dort gewiss alle Berichte über jene Katharer verwahrt, die sich vom traditionellen Glauben der Ketzer abgespalten hatten. Er ging die Schriftstücke weiter durch und fragte beiläufig: »Hast du etwas gefunden, Luna?«
    Keine Antwort.
    Raphael sah sie an. Sie hockte regungslos neben ihm auf dem Boden, auf ihrem Schoß einen Stapel Papier. »Luna?«, sagte Raphael noch einmal. Er berührte ihre Schulter, woraufhin sie den Kopf schüttelte. Besorgt kniete er neben ihr nieder und sah sie an. Tränen liefen über ihre Wangen. »Was ist mit dir, mein Kind?« Er sah zu Pierre hinauf, der ahnungslos mit den Schultern zuckte.
    Mit zitternden Händen zog Luna einige Dokumente aus dem Stapel und gab sie Raphael. Der sortierte sie und begann zu lesen. Seine Augen weiteten sich. Die Schriftstücke beurkundeten eine Untersuchung, die der päpstliche Legat Angelico d’Arezzo im Jahre 1332 durchgeführt hatte. Es ging um den Vorwurf, ein Mönch hätte eine fleischliche Beziehung zu einem Weib. Bei dem Mönch handelte es sich um einen Dominikaner, der Präpositus eines kleinen Klosters in der Auvergne gewesen war. Sein Name: Henri le Brasse. Raphael ließ die Hände sinken und holte tief Atem. Luna saß noch immer wie erstarrt neben ihm. Pierre kümmerte sich um sie. Raphael las weiter. Angelico, offensichtlich ein umsichtiger und akkurater Mann, hatte die Befragungen der Beschuldigten auf das Genaueste dokumentiert. Zuerst stand ihm Henri Rede und Antwort. Henri bestritt alle Vorwürfe und beschuldigte das Weib zuletzt gar, eine Hexe zu sein. Daraufhin befragte Angelico das Weib. Ihr Name war Anne Aynard. Eine starke Person, die den Fragen standhielt. Auf die Frage, ob sie eine Hexe sei, antwortete sie, dass in diesem Falle auch Maria Magdalena als Hexe gelten müsste. Der Legat

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