Hexengericht
Dann schnitt er eine Zitrone in zwei Hälften. »Gib mir die Schriftstücke da«, bat er Pierre. Kaum hielt er sie in Händen, begann er vorsichtig die Zitrone auf die geschwärzten Passagen zu reiben. Sodann entnahm er mit dem Messer etwas von dem Brei aus der Schale und strich ihn auf die Tintenkleckse. Er wartete einige Augenblicke und schabte den Brei samt Tinte herunter. Zum Vorschein kam, was ursprünglich dort gestanden hatte. Langsam schälte sich eine Unterschrift heraus. Aufgeregt stand er auf und hielt das Schriftstück vor eine Fackel. Nun würde sich zeigen, wer Henri gedeckt hatte. Welcher hohe Würdenträger diesen gnadenlosen Menschen schützte und in seinem Treiben stärkte. Die Wärme der Flamme ließ die Feuchtigkeit auf dem Papier verdunsten und gab das Geheimnis preis. Nur noch wenige Augenblicke.
»Könnt Ihr etwas sehen?«, fragte Pierre.
Die Stimme schreckte Raphael auf. »Sei still!«, herrschte er Pierre an. Seine Blicke waren auf die Urkunde geheftet. Und dann wurde die Unterschrift sichtbar. Raphael war so überrascht, dass er aufschrie und das Schriftstück fallen ließ.
»Was habt Ihr gesehen?«, wollte Pierre wissen. Er hob die Urkunde auf und gab sie Raphael.
Raphaels Hände zitterten. Die Unterschrift war unverkennbar, eine Verwechslung war ausgeschlossen. Normalerweise hätte Raphael ein Siegel erwartet. Er vermutete, dass es nicht befestigt worden war, weil es dann unsinnig gewesen wäre, die Unterschrift zu schwärzen. Denn es war die Unterschrift des damaligen Heiligen Vaters: Johannes XXII. »Was geschieht hier nur?«, flüsterte Raphael.
»Was habt Ihr herausgefunden?«, fragte Pierre mit ahnungsloser Unbefangenheit.
»Nicht jetzt, Pierre«, sagte Raphael. »Kümmere dich um Luna.«
In Angelicos Protokoll war von Schriftrollen die Rede. Wo waren sie und was enthielten sie? Raphael ging zu dem offen stehenden Schrank und holte jedes einzelne Dokument heraus, doch da waren keine Schriftrollen. Er lehnte sich an ein Regal. Ein päpstlicher Legat und zwei Kardinäle, die mit den Rollen zu tun gehabt hatten, lebten nicht mehr aus eigenem Willen. Zwei überführte Ketzer, einer davon ein Mann Gottes, waren freigelassen worden. Nicht nur das: Der Mönch erhielt gar eine so heilige Aufgabe wie die Inquisition. Von Bestrafung keine Rede. Was also stand in diesen Rollen, das so viel Macht über die höchsten Würdenträger der Kirche, des Heiligen Vaters höchstselbst, hatte? Hatte man sie an einen geheimen Ort gebracht? Noch geheimer als dieses Archivum? Waren sie womöglich verbrannt worden? »Es muss noch mehr geben«, flüsterte Raphael. »Schaut euch weiter um. Lasst keinen Winkel aus.«
Gemeinsam schoben sie den Schrank weg, in der Hoffnung, dahinter eine verborgene Nische zu entdecken. Doch sie fanden nichts als Stein und Staub.
Auch um den Schrank herum konnten sie nichts entdecken. Sie klopften die Steinplatten auf dem Boden und die Wände ab – vergeblich.
Irgendwann setzte sich Pierre erschöpft auf den kalten Boden. Träge nahm er das Messer und ritzte damit in den Stein.
Raphaels Augen ruhten auf ihm, aber seine Gedanken schwebten in weiter Ferne. Er konnte nicht glauben, dass die Rollen an einem anderen Ort versteckt waren. Es gab in der ganzen Christenheit keinen geheimeren Ort als das Archivum Secretum. Ergo mussten sie irgendwo hier zu finden sein. Unbewusst fiel sein Blick auf Pierres Hände und wie sie mit dem Messer in die Steinplatte ritzten. Dann besah er die Platte genauer, und etwas fiel ihm auf. Zahlen waren darin eingemeißelt. Er blickte sich um. Auf allen Steinplatten befanden sich Zahlen. Er ging den Gang zurück, die Augen auf den Boden geheftet. Zahlen überall. Das konnte kein Zufall oder eine Marotte des Baumeisters sein. Diese Zahlen hatten eine Bedeutung. Ob ein Zusammenhang zwischen ihnen und den Rollen bestand? Hastig eilte er zurück zu Pierre und Luna und berichtete knapp über seine Beobachtung.
»Ihr meint, wir sind dem Rätsel auf der Spur?«, fragte Pierre.
»Ganz gewiss«, antwortete Raphael. Er studierte die Zahlen um sich herum. Dabei erkannte er, dass einige Zahlenreihen häufiger vorkamen. »Diese Ziffern«, murmelte er, »kommen mir irgendwie bekannt vor.« Er suchte in seinem Gedächtnis nach der Antwort. Irgendwo hatte er diese Zahlenfolgen schon einmal gesehen. Und als er die Antwort fand, sprang er auf und stieß einen Schrei aus. »Dass ich nicht gleich darauf gekommen bin!«, jubelte er. »Gematria!«
»Gematria?«,
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