Hexengericht
Latini das Archiv verließ und die Tür schloss. Raphael ging leise auf die Tür zu und legte ein Ohr daran. Latinis Schritte verhallten. Er nickte Luna und Pierre zu, die auf dies Zeichen hin ihre Kapuzen abstreiften.
»Wo fangen wir an?«, fragte Pierre und blickte über die langen Regale, die drei Mann hoch bis unter die Decke reichten. In den Riegen waren alle Arten von Büchern zu finden. Breite, schmale, große, kleine, in Leder oder Holzdeckel gebundene, mit reich verzierten goldenen Aufschriften versehene oder mit verwischten Zahlen und Buchstaben bekritzelte. Dazwischen zahllose Konvolute, Koperte, Niederschriften, Urkunden und lose Blätter.
Das Gewölbe mochte hundertfünfzig Schritte lang sein. Am Ende war ein dunkler Durchgang zu einem weiteren Raum zu erkennen. Raphael ahnte, dass das Archivum dort noch weiterging. Angesichts dieser Dimensionen hielt er es für fraglich, ob sie bis zum Abend finden würden, wonach sie suchten. »Ich nehme die rechte Seite, du die linke, Luna. Du weißt, wonach du Ausschau halten musst?«
»Nach allem, was mit den Katharern zusammenhängt«, sagte Luna.
Raphael lächelte. »Dann ans Werk, mein Kind.«
»Was ist mit mir?«, wollte Pierre wissen.
»Kannst du lesen?«, fragte Raphael.
»Nein.«
»So ist es deine Aufgabe, für unsere Sicherheit zu sorgen.«
Pierre streckte stolz die Brust heraus. »Wohlan!« Er postierte sich neben der Tür.
Mit beiden Händen zog Raphael das erste Buch heraus. Eine Abschrift der Werke des Sokrates. Er stellte es zurück und nahm das nächste. Eine Abschrift der Werke Platons. Auch alle weiteren Bücher hier waren Abschriften großer Philosophen. Ganz und gar nichts, was er im geheimen Archivum des Papstes zu finden geglaubt hätte. Weiter zum nächsten Regal. Dort standen Abschriften medizinischer Werke der Römer, Griechen und Araber. Diesen folgten Riegen verbotener Schriften wie Gedichte, Verse, Possen und Weisen. Danach eine endlose Zahl von Reiseberichten in ferne Länder. »Wie steht es bei dir, Luna?«, fragte Raphael.
»Nichts«, antwortete Luna, während sie die Regale entlangstreifte. »Gar nichts.«
Die Stunden vergingen. Irgendwann schickte Raphael Pierre in die Küche hinauf, um neue Fackeln zu besorgen. Die alten waren allmählich heruntergebrannt.
Schließlich verließen sie das erste Gewölbe und drangen in das nächste vor. Zwar fanden sie hier Berge von Protokollen vieler Katharerprozesse, doch waren diese aus den Tagen der ersten Verfolgungen in den Jahren 1209 bis 1229. Und so gingen sie weiter in das dritte Gewölbe.
»Ich habe Hunger«, sagte Pierre, als Raphael und Luna ihre Arbeit hier aufnahmen.
Dass ich daran nicht gedacht habe, fuhr es Raphael durch den Kopf. Und bei der besessenen Suche war ihm selbst entgangen, dass sein Magen knurrte. »Oben in der Küche solltest du etwas finden«, sagte er. »Bring auch Wasser mit. Und sei vorsichtig.« Er sah Pierre nach, bis er in der Dunkelheit verschwunden war. Schon griff er nach den nächsten Büchern und Schriftstücken.
Jetzt, wo sie schon besser erkennen konnten, welche Dokumente für sie nutzlos waren, drangen sie weitaus schneller vor. Noch bevor Pierre zurückkam, standen Raphael und Luna im vierten und letzten Gewölbe.
Pierre brachte ihnen die ersehnten Speisen. Anschließend setzte er sich auf einen breiten, halbhohen Schrank und biss gierig in einen Laib Brot.
Zeit war kostbarer als Gold, und die Sonne weit über ihnen war gewiss längst untergegangen. So beendete Raphael seine Mahlzeit zügig.
Als sie im letzten Winkel des Gewölbes, und somit des gesamten Archivums, angelangt waren, kam die Ernüchterung. Nirgends auch nur der kleinste Hinweis auf die Katharer. Dabei musste es hier Unmengen von Prozessakten, Urkunden und Schriftstücke über die Katharer geben. Wo, wenn nicht hier, hätten sie suchen sollen? Niedergeschlagen lehnte sich Raphael an ein Regal und sah zu Boden. Dabei fiel sein Blick auf Pierres Füße. Der hatte die Sandalen abgestreift und die Kutte hochgeschoben, um bequemer auf dem Schrank sitzen zu können. Seine Augen wanderten weiter zu Luna, die neben Pierre stand. Und dann … wieder zurück zum Schrank. Sein Blick brannte sich in das dunkelbraune Holz. In der Mitte des Schranks prangte Asmodis Antlitz! Das unverkennbare Idolum, das sie in Imberts Haut gestochen gefunden hatten. »Komm da herunter, Pierre«, flüsterte Raphael.
Verwundert schaute Pierre ihn an, folgte aber dem Befehl. Er und Luna gingen zu Raphael.
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