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Hexengericht

Hexengericht

Titel: Hexengericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Fandrey
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fragte, wie er das verstehen sollte, doch gab die Aynard nur zurück, dass er den Angeklagten diesbezüglich ins Verhör nehmen sollte. Dies tat Angelico dann auch. Henri blieb stur, was Angelico veranlasste, ihn drei Tage und drei Nächte lang zu verhören. Am Morgen des vierten Tages war Henris Widerstand gebrochen. Er bestätigte die Vorwürfe, er habe mit der Aynard eine Liebschaft. Angelico wollte mehr über die Hintergründe erfahren und verlangte alle Einzelheiten. Die gab Henri preis. Er sagte aus, er wäre einer der perfecti , ein Katharer-Priester. Die Aynard wäre ebenfalls eine perfecta und seine Geliebte. Angelico warf Henri und Anne Aynard in den Kerker, forderte von der französischen Krone ein großes Ritterheer an und ließ die ganze Gegend und das Kloster durchforsten. Der Bericht des Legaten endete mit einer Liste von Dingen, die er dem Heiligen Stuhl übergeben wollte. Darunter gotteslästerliche Götzenbilder und mehrere alte Schriftrollen. Henri und Anne wurden nach Avignon gebracht, um dort vor ein geheimes kirchliches Gericht gestellt zu werden. Drei Kardinäle unterzogen sie weiteren Befragungen. Deren Namen waren in den Protokollen nicht genannt. Offenbar ging es hier auch nicht mehr um die Liebschaft oder gar um die Bestrafung für dieses Vergehen, sondern vielmehr um die Schriftrollen, die Angelico gefunden hatte und deren Inhalt hier keine Erwähnung fand. Die Kardinäle wollten Einzelheiten über mögliche weitere Schriftrollen erfahren. Henri und Anne schwiegen. Ob sie wirklich nichts wussten oder ob sie die Antwort verweigerten, blieb ungewiss. Und hier änderte sich merkwürdigerweise der Prozessverlauf. Per Erlass ließ man die Gefangenen frei. Anne, längst sichtbar mit einer Leibesfrucht gesegnet, wie der Schreiber festhielt, wurde verbannt. Sie durfte weder in die Auvergne noch in das Languedoc jemals wieder zurückkehren. Henri hatte dagegen eine vollkommen neue und unerwartete Aufgabe erhalten: die heilige Inquisition. Der Erlass und sämtliche Urkunden wiesen geschwärzte Passagen auf. »Pierre!«, rief Raphael.
    Pierre nahm den Arm von Lunas Schultern. »Bruder Raphael?«
    »Geh nach oben und besorge mir eine Schale aus Holz, eine Zitrone, Lavendelöl, Acetum, eine Hand voll Salz und ein Messer. Eil dich!«
    Unverzüglich ging Pierre hinauf.
    Die letzte Seite des seltsamen Protokolls enthielt die nüchterne Bemerkung, dass Angelico d’Arezzo drei Wochen nach Henris Vernehmung seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. Auch zwei von den drei Kardinälen, die Henri und Anne befragt hatten, waren durch eigene Hand gestorben. Der dritte war über Nacht spurlos verschwunden.
    Raphael legte den Stapel zur Seite und setzte sich neben Luna. Er strich sanft über ihr Haar. Sie sah ihn nicht an, sondern starrte auf den kahlen Boden vor ihren Füßen. »Diese Anne Aynard«, flüsterte Raphael. »Sie war deine Mutter, nicht wahr?«
    Luna nickte. Noch immer rannen stille Tränen über ihr Gesicht.
    Raphael wusste nicht, was er sagen sollte. Welche tröstenden Worte mag es geben, wenn ein junges Mädchen erfährt, dass ihr Vater der Teufel selbst ist?
    »Ich glaube«, flüsterte Luna plötzlich, »ich habe es schon gewusst, als ich ihn zum ersten Male sah. Damals, als du mit ihm unseren Hof betreten hast.«
    »Hast du es vorher gesehen?«, fragte Raphael. »Ich meine die Liebschaft zwischen ihm und deiner Mutter.«
    »Nein«, antwortete Luna. Sie wischte mit einem Zipfel ihres Kleides die Tränen weg. »Mamans Vergangenheit war für mich immer hinter einem schwarzen Schleier verborgen.«
    »Wer auch immer wusste, dass du diese Gabe hast, wollte vermutlich nicht, dass du zu früh davon erfährst.«
    »Du hast wohl Recht«, sagte Luna. »Es wäre mir aber lieber, wenn ich es niemals erfahren hätte.«
    Einmal mehr wünschte Raphael, mehr über Lunas Fähigkeiten zu erfahren. Der Herr musste einen Grund gehabt haben, sie damit zu segnen – oder zu strafen. Wenn es denn überhaupt der Allmächtige gewesen war. Im Laufe ihrer langen Reise war dies nicht der einzige Zweifel geblieben, der in seinem Herzen nagte.
    In diesem Augenblick tauchte Pierre im Schein der Fackeln auf. Er brachte eine Schale, ein Messer, drei Zitronen, ein Salzfässchen und zwei braune Fläschchen.
    Raphael stellte die Schale auf den Boden, öffnete das Salzfässchen und tat Salz in die Schale. Anschließend gab er sechs Tropfen Lavendelöl und zwölf Tropfen Acetum dazu. Die Mischung rührte er mit der Messerspitze gut um.

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