Hexengericht
ihrer Ankunft in diesen finsteren Schlund hinabgestiegen. Fragend sah er Luna an.
»Gehen wir«, sagte sie und nahm eine der Fackeln.
Raphael nahm die andere Fackel. Luna voran kletterte er in den Schacht. Die Stufen waren glatt, die Luft kühl und moderig. Der Schacht bot gerade Platz für eine Person, wobei größere Menschen wie Raphael den Kopf einziehen mussten. Er hörte, wie Luna ihm folgte. Plötzlich, etwa auf der zehnten Stufe, schloss sich die Öffnung über ihnen. Offenbar hatte einer von ihnen versehentlich den Schließmechanismus in Gang gesetzt. Raphael sah kurz zurück, um sich zu vergewissern, dass Luna wohlauf war. Sie lächelte zuversichtlich.
Irgendwo zwischen der zwanzigsten und dreißigsten Stufe gewahrte er ein fahles Licht weit unter ihnen. Nach vierzig weiteren Stufen gelangten sie an das Ende des Tunnels und kamen in einen breiten, von dutzenden Fackeln hell erleuchteten Gang, der nach links und rechts führte.
»Sie haben den ganzen Berg ausgehöhlt«, flüsterte Raphael. »Vermutlich nach dem Neubau der Festung.«
»Warum glaubst du, dass sie es nach der Belagerung getan haben?«, fragte Luna.
»Weil einige der belagerten Katharer sich mit dem Schatz, von dem wir nun wissen, dass er aus diesen alten Schriftrollen bestand, unter Einsatz ihres Lebens über die Steilkante abgeseilt haben. Hätte dieses Gewölbe damals bereits existiert, wäre ihr Vorhaben unnötig gewesen.«
Luna nickte. »In welche Richtung sollen wir uns wenden?«
Ratlos blickte Raphael sich um. »Was meinst du ?«
»Ich weiß es nicht.«
Er zeigte nach links. »Dieser Weg ist so gut wie der andere«, sagte er. »Achte darauf, dass deine Kapuze immer weit ins Gesicht gezogen ist. Und sprich nicht. Ganz gleich, was geschieht.«
»Ich habe verstanden«, sagte Luna.
Raphael nahm ihr die Fackel aus der Hand und warf die beiden in den Tunnel hinter ihnen. Jetzt benötigten sie keine mehr. Es herrschte ausreichend Helligkeit hier unten.
Die Handwerker, die diese Katakomben geschaffen hatten, mussten Meister ihres Faches gewesen sein. Der Boden im graubraunen Fels war glatt wie Marmor, bot aber dennoch ausreichend Halt für jedwedes Schuhwerk. Wände und Decke zeigten sich nicht minder sorgfältig aus dem Stein gearbeitet. In regelmäßigen Abständen waren auf Augenhöhe dämonische Fratzen aus dem Gestein gehauen. Einige von ihnen kannte Raphael, wie Belial oder Behemoth, andere hatten Hörner und mehrere Augen. Am häufigsten war die Fratze von Asmodi dargestellt. Das Wesen, das für diese Gruppe der Katharer eine herausragende Stellung einnahm. Zwischen den Fratzen standen in Stein geschlagene Schriftzeichen, ähnlich denen, wie sie droben in der Festung prangten. Etwa die Hälfte in Aramäisch, die andere Hälfte in der fremdartig klingenden Sprache.
Der Gang machte einen Bogen – und dort stießen sie auf die ersten Mönche.
Instinktiv wollte Raphael kehrtmachen. Es kostete ihn große Überwindung, nicht stehen zu bleiben. Er wich den fünf Männern, es waren Benediktiner und Zisterzienser, aus. Sie grüßten freundlich, indem sie sich mit gefalteten Händen verneigten. Raphael und Luna taten es ihnen gleich, und schon war der Spuk vorüber.
Raphael warf Luna einen verstohlenen Blick zu. Sie antwortete mit einem entspannten Lächeln. Er stand Höllenqualen durch, doch ihr schien es durchaus Spaß zu bereiten. Er schüttelte den Kopf und ging weiter.
Gleich darauf begegneten ihnen die nächsten Mönche. Auch sie grüßten freundlich. Kaum waren sie außer Sicht, kam ihnen wieder eine Gruppe Katharer entgegen. Immer mehr Mönche strömten durch die Gewölbe an den Eindringlingen vorbei. Sie alle trugen ihre Kapuzen über dem Kopf, sodass die ungebetenen Gäste nicht auffielen.
Gerade als Raphael Luna zuraunen wollte, dass sie doch umdrehen und mit den anderen gehen sollten, berührte ein Mönch ihn an der Schulter. Raphael zuckte zusammen. »Bruder«, sagte der Mönch, ein kleiner, feister Dominikaner, »ihr geht in die falsche Richtung. Habt ihr die Zusammenkunft vergessen?«
»Die … die Zusammenkunft?«, stotterte Raphael. »Ach, gewiss! Die Zusammenkunft. Ich fürchte, wir haben uns verlaufen, Bruder.«
Der Dominikaner lächelte milde. »Der Kapitelsaal befindet sich dort hinten. Ich führe euch gern.«
Verstohlen schaute Raphael zu Luna. Die Kapuze verdeckte ihr Gesicht. Er blickte wieder zu dem Dominikaner. »Hab Dank, Bruder. Dein Angebot nehmen wir gern an.«
Hinter dem Mann schritten Raphael
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