Hexengericht
einem kräftigen Schnaufer seine Position erneut ändern würde. Da griff eine gewaltige Pranke pfeilschnell nach Pierres Hals. »Hab’ ich dich endlich!«
Flucht aus Rouen
D ie Nokturn war längst vorüber, doch Raphael fand einfach keinen Schlaf. Gedankenversunken ging er in seiner Zelle in St. Albert auf und ab. Immer wieder blieb er vor dem kleinen Fenster stehen und betrachtete den Mond. Er hatte versagt. So viel war gewiss. Es war ihm nicht gelungen, Anne Langlois und ihre Tochter vor dem Scheiterhaufen zu retten. Wieder und wieder überdachte er seine Fehler. Sowohl im kanonischen als auch weltlichen Recht musste es eine Möglichkeit geben, zu verhindern, dass Luna und auch alle künftig Angeklagten verbrannt wurden. Aber sosehr er sich auch das Hirn zermarterte, er fand keine Lösung. Um seine Zukunft fürchtete er nicht. Zwar war es besiegelt, dass Henri sein, Raphaels, Verhalten vor Gericht tadeln und bestrafen würde, doch sah er sein Leben nicht in Gefahr. Möglicherweise wurde er von Tisch und Oratorium ausgeschlossen. Dies war eine schwere Strafe. Keiner der Brüder dürfte in diesem Fall mit ihm reden. Er müsste stets allein ungesegnete Mahlzeiten essen und die Arbeit allein verrichten. Vielleicht würden zusätzlich Rutenschläge angeordnet. Oder Henri würde ihn gar auf Mission schicken. Doch das war ihm gleich. Allein das Bild der sterbenden Frau auf dem Scheiterhaufen hielt vor seinem inneren Auge stand.
Ich muss hier raus, dachte Raphael und öffnete leise die Tür seiner Zelle. Auf dem Gang und im Dormitorium war es still. Er schlich durch den Schlafsaal und betrat den Kreuzgang. Sein Weg führte vorbei an Refektorium, Sakristei und Werkstätten. Vorbei an Scriptorium, Bibliothek und Archiv. Er stieg die breiten Stufen hinab, um in den großen Innenhof zu gelangen. Für einen Moment überkam ihn das Bedürfnis, in die Kirche zu gehen, um zu beten. Doch der Schein der Kerzen, der durch die Fenster des Abthauses drang, hielt ihn davon ab. Henri war noch wach? Um diese Zeit? Raphael überlegte hin und her. Schließlich siegte seine Neugier über die Tugenden des Mönchs. So ging er näher an das Abthaus und warf einen verstohlenen Blick hinein. Von Henri keine Spur. Er schlich um das Haus herum und schaute in jedes Fenster. Henri schien nicht da zu sein. Auf einem Pult sah er ein Dokument liegen. Sein geschultes Auge sagte ihm, dass es alt sein musste. Noch einmal schaute er um sich. Henri blieb wie vom Erdboden verschluckt.
Langsam ging er zur Tür des Abthauses. Dort klopfte er dreimal laut. Keine Antwort – wie erwartet. Ein letztes Mal sah er sich um. Schließlich drückte er gegen die Tür. Knarrend ließ sie sich öffnen. Er ging hinein und schloss sie sogleich wieder. Mehrmals rief er nach dem Prior. Noch immer keine Antwort. Raphaels Herz begann zu rasen. Erst in diesem Moment kam ihm zu Bewusstsein, was er gerade tat. Sein Eindringen verstieß gegen eine Menge Regeln des Ordens.
Ein Dutzend Kerzen wiesen ihm den Weg geradewegs zu dem Pult an der Wand. Darüber hing ein silbernes Kruzifix. Er bekreuzigte sich dreimal und bat den Herrn um Vergebung für seine Neugier. Mit zitternden Händen griff er nach dem Pergament. Es war älter, als es von draußen den Anschein gehabt hatte. Älter als alles, was er je in Händen gehalten hatte. Die Art des Materials erinnerte an ägyptischen Papyrus. Mit kunstvoll geführten Strichen standen Worte in einer ihm unbekannten Sprache darauf. Vergeblich versuchte er, die Schriftzeichen zu entziffern. Die Zeichen besaßen keinerlei Ähnlichkeiten mit Hebräisch, Griechisch, Aramäisch, Arabisch oder sonst einer Sprache, der er mächtig war. Was mochten sie nur bedeuten? Plötzlich entdeckte er am unteren Ende des Schriftstücks bekannte Zeichen, und mit einem Aufschrei ließ er es zurück auf das Pult fallen. Da war ein Pentagramm eingezeichnet, in dessen Mitte eine hässliche, dämonische Fratze prangte. Umrahmt wurde es von mehreren Siegeln, in die schlangenartige Symbole gemalt waren. »Das ist Teufelswerk«, flüsterte Raphael. Unwillkürlich trat er drei Schritte zurück und bekreuzigte sich. Fort von hier!, dachte er. Nur fort!
Noch bevor er sich umwandte, ertönte Henris Stimme in seinem Rücken. »Was treibt Ihr hier?«
Raphael wünschte, der Boden würde sich auftun und ihn auf der Stelle verschlucken. Schnell drehte er sich zu Henri um. »Ich?«, fragte er, wobei er nervös an seinem Skapulier nestelte. Er begann zu schwitzen.
»Außer
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