Hexengericht
seiner Eltern bei Dreux und das Kloster mit seinen umliegenden Ortschaften. Zwar hatte er eine grobe Vorstellung von dem Weg nach Avignon, doch reichte sie kaum aus, um schnell dorthin zu gelangen. Schnell genug, um dem Scheiterhaufen zu entkommen und Henris mordlüsterne Pläne zu vereiteln. Also, woher eine Karte bekommen? Da kam ihm der rettende Einfall, und er schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Dass ich daran nicht vorher gedacht habe!«, rief er. »Auguste! Auguste Gousset!«
Gousset war ein wohlhabender Kaufmann, der ein ansehnliches Gut südlich des Dorfes Boos besaß. Vor wenigen Jahren hatte Prior Michel ihn ertappt, wie er sich mit gefälschten Urkunden Ländereien in der Bretagne erschleichen wollte. Ländereien, die der Krone gehörten. Der ehrwürdige Vater, eine ausgewiesene Kapazität auf dem Gebiet alter Urkunden, bekam damals die Aufgabe, die Schriftstücke einer gewissenhaften Prüfung zu unterziehen, und Raphael ging ihm dabei zur Hand. Schnell kamen sie dem Betrug auf die Schliche. Aber eine ansehnliche Summe aus den Taschen Goussets überzeugte den ehrwürdigen Vater, die Echtheit der Urkunden zu bestätigen. So war das Kloster zu einer neuen Kirche gekommen und Gousset zu einem Landstrich am Meer. Gousset wusste, dass Raphael von dem Betrug Kenntnis hatte, und Raphael wusste, dass Gousset es wusste. Doch Gousset war ein gottesfürchtiger Mann, der viel für das Kloster und die Gemeinde tat, sodass Raphael den Mund gehalten hatte. Gousset schuldete ihm, Raphael, also noch einen Gefallen.
Raphael lenkte sein Pferd gen Süden, wobei er stets am Wegesrand ritt. Seine einzigen Begleiter waren die tief stehende Sonne und ein krächzender Rabe hoch über ihm.
Es gelang Raphael, ungesehen das Gut Gousset zu erreichen. Einige Male musste er hinter Bäumen und Büschen Deckung suchen, um von Reisenden nicht gesehen zu werden. Wie oft hatte er Bischof de Margaux um Gelder für den Ausbau der Straßen und Wege in der Diözese gebeten? Nun war er froh, dass diese nie bewilligt wurden. Auf den schmalen Pfaden war es viel einfacher, sich vor den Blicken zu schützen.
Das Haus Goussets war breiter als eine Scheune und höher als eine Kirche. Auf massiven Steinmauern saß hoch droben der gedeckte Giebel, der die Schneemassen mühelos trug. Spitzbogige, zum Teil kunstvoll bemalte Fenster warfen flackerndes Kerzenlicht in die Dämmerung. Überall schillernde Winkel und Nischen, verziert mit wertvollen Metallen. Die Wirtschaftsgebäude zu beiden Seiten, vornehmlich Stallungen, Scheunen und Gesindehaus, nahmen sich dagegen eher klein aus. Die aufwändige Verarbeitung und das teure Material ließen keinen Zweifel am Reichtum des Besitzers. Und Gousset wollte auch keine Zweifel aufkommen lassen. Er zeigte gern, was er besaß.
Raphael band sein Pferd an einen Baum. Als er an die Tür unter dem bronzenen Kreuz klopfte, öffnete ihm ein Famulus – ein unfreier Diener – in feinstem Zwirn. »Ihr wünscht, Bruder?«
»Mein Name ist Raphael. Führe mich zu deinem Herrn.«
Der Famulus öffnete die Tür ein Stück weiter, und Raphael schlüpfte hindurch. Wohlige Wärme umgab ihn, und der Duft von Wildfleisch und Zedernholz stieg ihm in die Nase. Der Diener führte ihn in das Arbeitszimmer. In unzähligen Wandgestellen standen oder lagen sorgfältig geordnet Goussets Geschäftsaufzeichnungen. Zumindest hielt Raphael die Bücher und Pergamente dafür.
»Wartet hier, Bruder«, sagte der Diener. »Mein Herr kommt sogleich.«
Noch bevor Raphael seine Gedanken ordnen konnte, erschien Auguste Gousset. »Bruder Raphael!«, rief er und ging mit ausgestreckten Händen auf Raphael zu.
Raphael lächelte. Er fasste die warmen Hände und sagte: »Seigneur Gousset, verzeiht mir, dass ich so spät in Euer Haus eindringe.«
Der hoch gewachsene, schlanke Mann machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ihr seid hier immer willkommen, Bruder Raphael. Eure Hände sind eiskalt, und Euer Haar gleicht spitzen Eiszapfen. Ihr müsst halb erfroren sein.«
»Ich bin eine Weile unterwegs, Seigneur«, sagte Raphael. Vorsichtig betastete er seinen Kopf. Das Eis begann zu schmelzen und in kleinen Bächen seinen Nacken hinunterzulaufen.
»Kommt«, sagte Gousset und packte Raphaels Hand. »Ihr seid ein Eisblock, und mein Diener führt Euch in diese kalte Kammer.«
Wortlos ließ Raphael sich führen. Kurz darauf stand er in einem großen Wohnraum, wo in einem Kamin ein behagliches Feuer loderte. Die Wände waren behangen mit edlen
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