Hexengericht
du?«
»Mit der Pest haben sie ihn vergiftet.« Die Alte fing wieder an zu lachen. »Und weil sie ihn vergiftet haben, haben wir sie getötet und in den Brunnen geworfen.«
Pierre taumelte. Sein Magen begann zu rebellieren. Er konnte sich gerade noch umwenden, als er sich auch schon erbrach. Stöhnend stützte er sich auf den Brunnenrand. Als er sich wieder umdrehte, war die alte Frau verschwunden.
Nur fort von hier! Er atmete ein paarmal tief durch, dann setzte er sich wieder auf sein Pferd. Mit rumorendem Magen machte er sich weiter auf die Suche nach dem Medicus.
Irgendwann hörte er ein Kind weinen. Er ritt tief in eine dunkle Gasse hinein. Sie war so schmal, dass kaum zwei Pferde nebeneinander Platz fanden. Wie finstere Berge ragten die Häuser links und rechts in die Höhe. Der Ort war ausgestorben wie die Hölle am Tag des Jüngsten Gerichts.
Vor einem alten, schiefen Holzhaus fand er das Kind. Im Haus gegenüber brannte im ersten Stock eine Kerze, sodass ein wenig Licht in die Gasse fiel.
Pierre sprang aus dem Sattel und ging zu dem Kind. Es hob den Kopf, und Pierre sah, dass es ein Mädchen von vielleicht fünf Jahren war. Das blonde Haar dreckverklebt, das Gesicht mit Ruß beschmiert. Das Kleidchen war zerrissen. Schuhe trug es nicht. Es beachtete ihn nicht, sondern saß nur da und weinte. »Gott mit dir, kleines Mädchen«, sagte Pierre und hockte sich hin. »Warum weinst du?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf und weinte weiter.
Pierre empfand Mitleid mit dem armen Geschöpf. »Was ist denn geschehen?«, fragte er. »Wo sind deine Eltern?«
Das Weinen und Schluchzen erstarb. »Tot«, sagte es mit gesenktem Kopf. »Tot.«
Fast brach es Pierre das Herz. Vater und Mutter waren der Pest zum Opfer gefallen, und dieses kleine Mädchen musste allein überleben. »Wann sind deine Eltern gestorben?«
Wieder schüttelte es mit dem Kopf.
Ratlos fragte Pierre: »Deine Eltern sind nicht tot?«
Kopfschütteln.
»Wer ist dann tot?«
Da hörte er ein seltsames Kichern. Unsicher stand er auf und blickte sich um. »Wer ist tot?«, wiederholte er.
Das Mädchen schüttelte wieder nur den Kopf. Dann sah es auf und blickte Pierre mit großen Augen an. »Du!« , flüsterte es. » Du bist tot!«
Nur fort, dachte Pierre. Er machte auf dem Absatz kehrt und wollte zurück zu seinem Pferd. Doch vier düstere Gesellen versperrten ihm den Weg. Ihre Gesichter konnte er nicht erkennen.
»Nicht so eilig«, sagte einer von ihnen.
»Was wollt ihr von mir?«, fragte Pierre.
»Was für eine dumme Frage«, sagte ein anderer.
Schritt für Schritt kamen sie näher. Pierre drehte sich um und wollte fliehen. Aber zwei weitere Halsabschneider riegelten auch diesen Fluchtweg ab.
»Du trägst gute Kleider«, meinte einer. »Ordentliches Schuhwerk und teure Stoffe. Du hast bestimmt Geld. Gib es uns, und wir verschonen dein Leben.«
»Ich …«, stotterte Pierre, »ich habe kein Geld. Keinen Sou.«
Plötzlich fühlte er einen Schlag auf seinem Hinterkopf. Benommen ging er zu Boden. Warmes Blut lief über die Stirn in seinen Mund.
Zwei der Burschen durchsuchten ihn grob, rissen Hemd und Hosen auf, raubten ihm Schuhe und Gürtel.
»Er hat wirklich kein Geld«, sagte einer.
»Verflucht!«, sagte ein anderer. »Nehmen wir, was er hat, und dann nichts wie weg.«
Die Bande zog Pierre bis auf die nackte Haut aus. Dann schlugen und traten sie auf ihn ein, bis er sich nicht mehr bewegte. Das Mädchen setzten sie auf das Pferd. Es lachte und quiekte vor Vergnügen. Dann verschwanden sie in der Nacht.
Raphael suchte jeden Winkel in den westlichen Vierteln von Montpellier ab. Wo immer er glaubte, ein Haus könnte einem Medicus gehören, stieg er ab und verschaffte sich Gewissheit. Ärzte fand er wohl, doch nur die hochnäsigen Professores, Doctores und Lizenziaten der Universität. Von ihnen war keine Hilfe zu erwarten.
»Juda«, sagte Raphael immer wieder, »wo steckt Ihr nur?«
Mitten in der Nacht erreichte er die Stadtmitte. Vor ihm ragte die Kathedrale Saint Pierre in den Himmel. Daneben lag die berühmte Universität der Stadt. Vor dem großen Portal der Kathedrale stieg Raphael ab. Müde, durstig und hungrig hockte er sich auf die Stufen. Er fühlte sich erschöpft und kraftlos. Seine Glieder schmerzten, sein Kopf schien wie ein Amboss, auf den ein riesiger Schmiedehammer einschlug. Immerzu sah er Luna vor sich, die starb, wenn ihre Suche nach dem Medicus erfolglos blieb. Und sie alle würden sterben, wenn Luna nicht
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