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Hexengericht

Hexengericht

Titel: Hexengericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Fandrey
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überlebte. Die Verantwortung lag schwer auf Raphaels Schultern. Er zog die Beine an, legte seine Arme auf die Knie und bettete den Kopf darauf. Eine Weile saß er so da. Dann übermannte ihn die Anspannung der vergangenen Monate, und er tat etwas, das er seit seiner Kindheit nicht mehr getan hatte – seit er damals das elterliche Gut verlassen hatte und in den Orden eingetreten war. Er weinte. Und er schämte sich nicht.
    Plötzlich hörte er eine Stimme: »Weint nicht, junger Freund. Habt Gottvertrauen. Unter seiner Führung wird alles ein gutes Ende nehmen.«
    Raphael stockte. Sein Kopf ruckte hoch. Wer war das? Durch die tränennassen Augen konnte er kaum etwas erkennen. Er wischte sie mit einem Ärmel trocken. Wo war der Fremde hin, der zu ihm gesprochen hatte? Er schaute nach rechts und links, fand aber niemanden.
    Dann fiel sein Blick auf einen gebeugt gehenden Mann, der gerade um die Ecke bog. Raphael zuckte mit den Schultern und legte seinen Kopf wieder auf die Arme. Plötzlich erstarrte er. Da war etwas an diesem alten Mann gewesen, das ihn aufmerken ließ. Fieberhaft überlegte er. Dann fiel es ihm ein: der Hut! Der alte Mann trug einen Judenhut.
    Er war mit einem Satz auf den Beinen und lief dem Mann hinterher. Als er um die Ecke bog, blickte er auf eine lange Straße. Niemand war zu sehen. Er lief weiter. Er blickte in jede Seitengasse, ob er den geheimnisvollen Fremden dort vielleicht entdeckte, aber so angestrengt er auch in die dunklen Ecken und Winkel starrte, er fand ihn nicht.
    Am Ende der langen Straße zweigte nur noch eine Gasse ab. Raphael hastete hinein. Atemlos suchte er die Häuser ab. Plötzlich nahm er Bewegung wahr. Etwa fünfzig Schritte entfernt sah er den Mann wieder. Er betrat gerade ein Haus. Raphael wollte ihm etwas zurufen, aber seine Kehle war wie ausgedörrt. Er rannte weiter bis zu einem kleinen, gemütlich aussehenden Häuschen mit einem kleinen Garten davor. In dem Garten, neben der Pforte, las er auf einem Schild: »Juda ben Zekharya ibn Tibbon – Rophe Ouman.« Raphael, der Hebräisch beherrschte, erinnerte sich, dass dieser Titel so viel bedeutete wie ›qualifizierter Arzt‹. Darunter war eine Matula auf das Schild gemalt, ein Gefäß aus Glas, in dem Urin für die Uroskopie aufgefangen wurde. Es war das Zeichen der Ärzte. Raphael konnte es kaum glauben. Er stand vor Judas Haus. Lunas Prophezeiung hatte sich erfüllt.
    Seine Hände zitterten, als er an die schmucklose Tür klopfte.
    Der Arzt öffnete und schaute ihn fragend an. Er musste schon sehr alt sein. Sein Haar und sein Bart waren schlohweiß und lang. Tiefe Furchen durchzogen das Gesicht. In seinem Blick fand er etwas, das selten war in dieser Zeit: Liebe. Noch Jahre später sollte Raphael sich an diese Augen erinnern.
    Der Mann neigte den Kopf, seine Lippen formten ein Lächeln. »Was führt Euch zu mir, junger Freund?«
    »Eine Freundin, die sehr krank ist, Maître«, sagte Raphael. Seine Stimme war vor Aufregung schwach und dünn.
    »Dann lasst uns keine Zeit verlieren«, sagte der alte Mann. Er griff nach Hut und Mantel, und schon stand er neben Raphael auf der Schwelle. »Bringt mich zu ihr.«
    Gern hätte Raphael mehr über diesen Medicus erfahren, der, wie Luna gesagt hatte, der Einzige war, der ihr zu helfen vermochte. Aber er traute sich nicht, ihn zu fragen.
    Als sie bei dem Pferd angekommen waren, sagte Raphael: »Bitte, steigt auf, Maître. Ich führe das Pferd.«
    Der Arzt lachte und entblößte zwei Reihen makellos weißer Zähne. »Hinauf mit Euch! Ich folge.«
    Raphael gehorchte, dann wollte er dem Arzt seine Hand reichen. Aber Juda saß längst hinter ihm im Sattel. Und bevor Raphael darüber nachdenken konnte, was da geschehen war, hatte der alte Mann die Zügel gegriffen und trieb das Pferd an.
    Wie der Wind sausten sie durch Montpellier. Fast schien es Raphael, als wüsste der Arzt, wo er seine Patientin finden würde. Zielsicher lenkte er das Pferd durch Straßen und Gassen, vorbei an Kirchen und Werkstätten und quer über Plätze.
    Schließlich erreichten sie Luna, die von Jeanne und Amicus immer noch streng bewacht wurde.
    Sofort sprang der Medicus ab, eilte zu Luna und begann mit der Untersuchung.
    »Ich mag es kaum glauben«, raunte Amicus in Raphaels Ohr. »Ihr habt ihn wirklich aufgespürt.«
    Jeanne hatte Tränen in den Augen.
    »Ich kann es selbst nicht fassen«, sagte Raphael. »Doch scheint mir vielmehr, er hat mich gefunden.«
    Jeanne und Amicus blickten Raphael fragend an. Doch

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