Hexengericht
nicht, ob sie diese Nacht übersteht.«
Raphael nickte. Lange saßen sie schweigend neben Luna. Pierre schlief derweil ein. Leises Schnarchen drang zu ihnen herüber. »Versucht zu schlafen, Madame Gousset«, sagte Raphael. »Ich kümmere mich um sie.«
»Meint Ihr wirklich?«
»Legt Euch neben Pierre«, sagte Raphael. »Ich wecke Euch, wenn eine Veränderung eintritt.«
Jeanne stand langsam auf. »Dann gute Nacht, Bruder Raphael.«
»Gute Nacht, Madame.« Raphael beobachtete, wie sie eine Decke vom Sattel ihres Pferdes nahm und diese neben Pierre ausbreitete. Kurz darauf war sie eingeschlafen.
Von Amicus gab es weit und breit keine Spur. Raphael seufzte und befeuchtete Lunas Gesicht. Durchdringend sah er sie an, als könnten seine Gedanken sie aus dem Delirium herausholen. »Luna«, flüsterte er. »Hilf mir, Kind. Bitte, hilf mir. Was soll ich tun? Sag mir, was ich tun soll. Bitte, Luna.« Er erwartete keine Antwort. Resigniert ließ er den Kopf hängen.
Plötzlich stöhnte Luna leise und schlug die Augen auf. Sofort war Raphael hellwach. »Luna«, flüsterte er. »Kannst du mich hören?«
Luna sah ihm nicht in die Augen. Ihr Blick war starr auf den Sternenhimmel gerichtet. »Bruder …«, stammelte sie. »Bruder Raphael.«
»Ja, mein Kind. Ich bin hier. Hier neben dir.«
»Ihr werdet ihn in dieser Nacht finden«, flüsterte Luna. »Zieht jetzt los. Wartet keinen Augenblick länger. Sonst … sonst ist es zu spät.« Die müden Augen schlossen sich.
»Pierre!«, rief Raphael.
»Was ist los?« Pierre erwachte und rieb sich die Augen.
»Ist etwas mit Luna geschehen?«, wollte Jeanne wissen. Sie war sofort auf den Beinen.
»Nein, nein«, antwortete Raphael. »Wir steigen wieder auf unsere Pferde. Wir werden in der Nacht auf unseren unbekannten Freund treffen. Luna hat es mir gesagt.«
»Wie gehen wir vor?«, fragte Jeanne. Ihre Augen leuchteten vor Aufregung.
»Wir warten auf Amicus«, sagte Raphael, »der …«
»Der just zurückkehrt«, dröhnte die tiefe Stimme des Messerwerfers in ihrem Rücken. Er trug einen schweren, prallvoll mit allerlei Proviant gefüllten Sack. Er stellte den Sack neben Pierre an die Kirchenmauer.
Mit wenigen Worten erzählte Raphael Amicus, was geschehen war. »Ich denke«, schloss er, »wir schwärmen aus und reiten in alle Richtungen, durchstöbern jeden Winkel. Irgendwo läuft er uns schon über den Weg. Beim ersten Sonnenstrahl treffen wir uns hier wieder.«
»Jemand muss bei Luna wachen«, wandte Pierre ein.
»Ich bleibe bei ihr«, sagte Jeanne.
»Ich auch«, sagte Amicus. »Zu Eurem und Lunas Schutz. Damit nichts passiert.«
»Er hat Recht«, sagte Pierre.
Jeanne nickte. Lächelnd ergriff sie die große Hand und drückte sie fest.
Raphael stand auf. »Nun denn, Pierre! Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Sie bestiegen ihre Pferde, winkten Jeanne und Amicus zu und stoben davon. Die Suche nach Lunas Lebensretter hatte begonnen …
Der Norden der Stadt war Pierres Ziel. Er führte sein Pferd durch die engen Gassen. Viele der Häuser waren verfallen, einige sogar verlassen. Sanfter Wind strich durch die Straßen und ließ die Fensterläden leise klappern. Überall sah er Tote auf dem Pflaster liegen. Es war die Gegend der Armen, in die er eindrang. Das Reich der Bettler, Trinker, Krüppel und Siechen. Menschen ohne Bürgerrechte. Gelichter.
Eine Weile ritt er planlos durch das Viertel. Hier und da hielt er an, um ein Türschild in Augenschein zu nehmen. Den gesuchten Medicus fand er nicht.
Erschöpfung und Durst zwangen ihn zu einer Pause. Auf einem kleinen Platz, neben einem Brunnen stieg er vom Pferd, ließ den Eimer hinunter und zog ihn wieder hoch. Zuerst wollte er nur trinken, aber dann steckte er den ganzen Kopf in das kühle Nass. Anschließend gab er seinem Pferd zu trinken.
Eine Stimme hinter Pierre lachte höhnisch auf. Erschrocken fuhr er herum. Vor ihm stand ein altes Kräuterweib, das Gesicht voller Warzen, die Haare grau und verfilzt, den knochigen Körper in stinkende Lumpen gehüllt. Auf dem Rücken trug sie einen Weidenkorb, in dem Kräuter und Wurzeln lagen.
»Lachst du über mich?«, fragte Pierre und ballte vor Schreck drohend die Fäuste.
Die Alte lachte immer noch. »Ja, über dich.«
»Und was ist so komisch an mir?«
»Der Brunnen«, krächzte sie.
»Was ist mit dem Brunnen?« Pierre wurde wütend. »Sprich endlich!«
Das Lachen verstummte. »Die Juden haben ihn vergiftet.«
Pierre schrak zurück. »Vergiftet, sagst
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