Hexengericht
Bett. Das ist Luna, durchfuhr es ihn. Er schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen, als könnte er damit den Spuk vertreiben. Aber umsonst. Keine Manneslänge von ihm entfernt lag Luna. Der unbekannte Freund hatte auch sie versorgt.
Eine Weile blieb er auf der Bettkante sitzen, um Kräfte zu sammeln. Schließlich stand er auf und ging auf wackeligen Beinen zur Tür. Er öffnete sie, konnte aber niemanden sehen. So schloss er sie wieder und ging zum Fenster. Mit viel Mühe schob er die schweren Vorhänge zur Seite. Unter ihm lag ein verwilderter Garten mit allerlei Bäumen, Büschen, Blumen und Kräutern. Und unter einem dieser Bäume? Amicus! Da unten lag Amicus im Schatten und schlief tief und fest. Pierre atmete auf. Und wo Amicus war, konnten Bruder Raphael und Madame Gousset nicht weit sein.
Beruhigt zog Pierre seine Arme zurück, und der Vorhang fiel wieder zu. Er schaute Luna an. Wie schön sie war, wenn sie schlief. Auch die garstigen Beulen konnten ihrer Anmut nichts anhaben. Er schleppte sich zu ihrer Bettstatt hinüber und setzte sich neben sie. Gefühle von tiefster Liebe und Aufopferung übermannten ihn. Gefühle, die er schon viel zu lange verbergen musste. Ohne wirklichen Erfolg, wie er vermutete. Jeder wusste, wie es um ihn stand. Luna eingeschlossen. Aber in diesem Augenblick, hier allein mit ihr, überwältigten ihn diese Gefühle. Er kniff die Augen zusammen und weinte. Bedächtig schob er seine zitternde Hand vor, bis sie Lunas Haar berührte. Seine Finger fuhren über ihre Schläfen bis zu den Wangen. Dabei achtete er darauf, dass er die Beulen nicht berührte. Nicht aus Angst, sich anzustecken, sondern um ihr keinerlei Schmerzen zuzufügen. Ganz sanft strich er mit zwei Fingern über ihr Gesicht. Dann, aus einem inneren Impuls heraus, beugte er sich vor. Dicht an ihrem Ohr öffnete er die Lippen. »Werdet bald gesund«, flüsterte er so leise, dass er es selbst kaum verstand. »Bitte werdet gesund. Euer Licht muss scheinen, Mademoiselle. Es muss!« Er wollte sich aufrichten, hielt aber inne. Da war noch etwas, das er ihr sagen musste. Etwas, das zu sagen er nie wagen würde, wäre sie wach. »Ich liebe Euch. Ich liebe Euch aus tiefstem Herzen. Zwar weiß ich, dass wir nicht füreinander bestimmt sind, aber dennoch liebe ich Euch. Noch an meinem letzten Tag werde ich an Euch denken. Und mit meinem letzten Atemzug werde ich Euren Namen wispern.«
In diesem Moment wandte Luna den Kopf, und seine Lippen berührten ihre heiße, feuchte Stirn. Erschrocken fuhr er hoch. Ob sie mich gehört hat, fragte er sich. Doch sie schien tief zu schlafen. Pierre atmete auf. Ein letztes Mal strich er über ihren Kopf. Er ging zur Tür, um nachzusehen, ob jemand lauschte. Doch niemand stand draußen. So stieg er wieder in sein Bett, legte sich auf die Seite, damit er Luna sehen konnte, und schlief innerhalb eines Augenblicks ein.
Lunas Geheimnis
D ie Stunden zogen dahin. Bis zum nächsten Morgen gab es nicht das leiseste Geräusch in dem Häuschen. Raphael und Jeanne schliefen in der Bibliothek, Juda in seinem Bett und Amicus unter der Kastanie.
Noch bevor seine Gäste erwachten, stand Juda auf und versorgte seine Patienten. Er gab Luna von dem Sud aus Schimmelpilzen zu trinken, wusch die Masse von den Beulen, prüfte jede einzelne und bestrich sie erneut. Anschließend wechselte er Pierres Verbände.
Dann, lange nach dem ersten Hahnenschrei, fanden die Freunde heraus, dass Juda nicht nur ein ausgezeichneter Medicus, sondern auch ein vorzüglicher Koch war. Er bereitete seinen Gästen ein köstliches Frühstücksmahl mit selbst gebackenem Brot, Käse, schmackhafter Wurst aus Eselfleisch, Eiern, Milch und Kräutertee. Zum Mittag kochte er einen Eintopf, dessen geheimnisvolle Gewürzmischung, wie Raphael verwundert feststellte, in Judas alchimistischer Giftküche, wie Amicus das Laboratorium nannte, entstand.
So verging Tag um Tag. Raphael und Jeanne verbrachten viel Zeit miteinander. Er las ihr aus Judas Büchern vor, berichtete von seiner Kindheit in Dreux, seinen Erlebnissen als Mönch, und sie erzählte ihm unzüchtige Witze, die ihm ein ums andere Mal die Schamesröte ins Gesicht trieben.
Derweil suchte Amicus die Einsamkeit. Er lag oft viele Stunden an seinem Lieblingsplatz unter der Kastanie und starrte zum Himmel hinauf. Bei Tisch sprach er meist nur das Nötigste. Dabei trat er keineswegs unfreundlich auf.
»Er braucht Zeit für sich«, sagte Jeanne eines Abends zu Raphael, der Sorge um den Freund
Weitere Kostenlose Bücher