Hexengericht
hatte. »Lassen wir ihm seine Ruhe.«
Dann, am Morgen des fünften Tages, geschah etwas Wunderbares.
Raphael und Jeanne wollten gerade ihre Plätze am Frühstückstisch einnehmen, da rumpelte und polterte es über ihnen. Gleich darauf hastete jemand die Treppe herunter.
»Sie ist wach!«, brüllte Pierre. »Sie ist wach!«
Raphael sah Jeanne aus weit aufgerissenen Augen an. »Jesus Christus«, flüsterte er.
Schon flog die Tür auf, und Pierre kam atemlos herein. Die Bandagen hatten sich gelöst. »Luna ist aufgewacht! Nun steht auf und kommt! Worauf wartet ihr noch?« Er drehte sich um und lief hinaus in den Garten, wo er Amicus weckte.
Raphael und Jeanne stürzten nach oben. Juda war ihnen dicht auf den Fersen. Raphael riss die Tür zu der kleinen Kammer auf und – Luna saß im Bett!
»Mein Kind!«, rief Raphael. Er kniete sich neben sie und wollte sie umarmen. Da erst sah er, dass viele Beulen über Nacht aufgeplatzt waren und eine grüne, übel riechende Flüssigkeit aus ihnen herauslief.
»Rührt sie nicht an!«, rief Juda von der Tür aus.
Raphael zuckte zurück. Jeanne, den Tränen nahe, nahm ihn beiseite, damit Juda das Mädchen untersuchen konnte.
In diesem Augenblick begann Luna zu lächeln. Es schien, als wäre Juda ihr seit langem vertraut.
»Wie geht es dir, mein liebes Kind?«, fragte er.
Sie zeigte ihm Arme, Hals und Nacken. Viele der dunklen Beulen waren noch nicht aufgeplatzt. Die offenen reinigte Juda gründlich. Danach trug er eine gelbe Tinktur auf.
Jeanne packte Raphael und zog ihn hinaus. Gerade schloss Raphael die Tür, da stürmten Pierre und Amicus herauf.
»Ist es wahr?«, fragte Amicus.
Jeanne nickte heftig. Tränen rollten über ihre Wangen. Sie drückte die drei Männer fest an sich. Auch Raphael und Pierre weinten vor Freude. Nur Amicus wollte seine Tränen nicht zeigen. Er spielte einen Hustenanfall vor, ging ein paar Schritte zurück und drehte sich zur Wand. Aber jeder sah, wie er verstohlen mit einem Tuch über sein Gesicht wischte. »Ich glaube«, sagte er, »ich habe mich in der Nacht erkältet.«
Pierre grinste und klopfte Amicus auf die Schulter.
Die Tür ging auf und Juda trat heraus. »Ich denke«, sagte er mit quälender Langsamkeit, »dass das Schlimmste überstanden ist.«
Die Freunde brachen in Jubel aus.
Doch Juda mahnte sie, nicht voreilig zu sein. »Noch ist sie nicht geheilt. Das Fieber geht allmählich zurück, wie es zu erwarten war. Doch müssen wir noch zweimal sieben Tage und sieben Nächte Geduld haben. Dann, wenn die Beulen weg sind und die Temperatur normal ist, hat sie die Krankheit endgültig besiegt. Bis dahin: betet.«
»Das sind wahrhaft gute Neuigkeiten, Juda«, sagte Raphael. »Erlaubt Ihr uns, mit ihr zu sprechen?«
Juda überlegte nicht lange. »Nein«, antwortete er. »Vielleicht in ein oder zwei Tagen. Noch ist sie zu erschöpft. Gönnt ihr etwas Ruhe.«
Raphael nickte. Er spürte, wie eine große Last von ihm abfiel. Und erst jetzt merkte er, wie auch er der Erholung bedurfte. Obwohl er in den vergangenen Tagen viel geschlafen hatte, drängte es ihn, sich irgendwo niederzulegen und ihre Situation in Ruhe zu überdenken. Vielleicht gestattete ihm Amicus, an seiner Seite im hohen Gras unter der Kastanie zu liegen. Nur für einige Stunden. Er würde ihn auch nicht stören. Es gab so viel, über das er sich Klarheit verschaffen musste. Da war Henris böser Schatten, der in Gestalt von Imbert unentwegt nach ihnen griff. Es mochte nur eine Frage der Zeit sein, bis er ihnen wieder auf den Fersen war. Wie lange könnten sie noch auf der Flucht sein? Es war an der Zeit, den Spieß umzudrehen. Aber wie? Wo war Henris Schwachstelle? Jedoch … Ging es überhaupt noch um ihn? Ging es nicht längst um mehr? Ging es nicht nur noch um eine einzige Frage? Die Frage, die Raphael kaum zu denken wagte und deren Beantwortung er mehr fürchtete als tausend Jahre Höllenfeuer? Warum verweigerte die Kirche, die auf dem Fundament der Liebe Christi errichtet war, die Heilung von der Pest? Behielt Juda Recht, wäre alles, woran er, Raphael, bisher geglaubt hatte, mit einem Schlag hinfällig. Die Kirche log, wenn sie nur das Wort Pest in den Mund nahm. Und was wäre die Konsequenz? Wenn sie in diesem Fall log, was war dann mit der Vergebung der Sünden, der Vertretungsmacht Gottes auf Erden in Person des Heiligen Vaters, dem Jüngsten Gericht und den Evangelien? War nicht womöglich alles nur ein mächtiges Lügengebilde? Gott wohnt in uns, dachte
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