Hexengericht
ein weiterer Patient für Euch«, sagte Amicus zu Juda, als er den Raum betrat.
»Legt ihn auf das Bett.« Juda nahm Leinentücher aus der Kommode, dazu zwei Fläschchen und einen Tiegel voll goldgelber Salbe. Er stellte die Utensilien auf den Tisch und goss Wasser in eine große Schale. Eingehend untersuchte er den geschundenen Körper, tastete Kopf, Rücken, Beine und Arme ab. Mit den Daumen schob er Pierres Augenlider hoch und prüfte die Pupillen. Dann schaute er in den Mund und befühlte den Hals.
»Wie steht es um ihn, Juda?«, fragte Raphael.
»Ein starker Jüngling«, sagte Juda. »Er wird es überleben.«
»Kann ich Euch zur Hand gehen?«
»Gewiss. Nehmt den Extrakt und bestreicht damit die Bubonen des Mädchens. Aber geht mit Vorsicht zu Werke, dass die Beulen unter der Haut nicht platzen. Das wäre ihr Ende.«
Mit spitzen Fingern öffnete Raphael Lunas Kleid und schob es auseinander. Zwei Dutzend schwarze Beulen konnte er erkennen. Er nahm die Schale mit dem Extrakt, tauchte den Spatel in die blassrosa Masse und bestrich sorgfältig die Male.
Derweil kümmerte Juda sich um Pierres Wunden. Zuerst wusch er die Wunden aus und entfernte das Blut von Gesicht, Brust und Armen. Jetzt sah Pierre schon fast wieder normal aus. Dann öffnete Juda eine der Flaschen. Augenblicklich erfüllte der scharfe Geruch von Arnika den Raum. Er beträufelte eines der Tücher mit der Tinktur und tupfte damit auf die Blutergüsse und blauen Flecken. Anschließend öffnete er die zweite Flasche, und die süßlich-fruchtige Note der Kamille breitete sich in der Kammer aus. Juda goss die Tinktur über ein weiteres Tuch und bestrich damit die offenen Wunden. Zuletzt nahm er den eisernen Tiegel. Er stellte ihn neben Pierres Kopf auf das Bett. Der Inhalt bestand aus einer dunkelbraunen, geruchlosen Masse, die an dunkle Butter erinnerte.
»Was ist das für ein Zeug?«, fragte Amicus, der beobachtete, wie Juda damit alle Wunden bedeckte.
»Eine Salbe, aus der Rinde der Pappel gewonnen«, antwortete Juda, ohne innezuhalten. Nachdem alle Wunden unter einer dicken braunen Schicht lagen, verband er sie mit breiten Leinenstreifen. Liebevoll deckte er Pierre zu und strich über das geschwollene Gesicht. »Wie weit seid Ihr?«, wollte er von Raphael wissen.
»Ich denke, ich habe vorn alle Beulen gefunden und behandelt«, antwortete Raphael.
»Dann lasst uns das Mädchen umdrehen«, sagte Juda.
Gemeinsam legten sie Luna auf die Seite. Raphael hielt sie fest, damit Juda die Beulen auf dem Rücken und der Unterseite der Beine bestreichen konnte.
»Das genügt«, sagte er schließlich.
Behutsam legten sie Luna wieder auf den Rücken. Noch immer zeigte sie keine Regung.
»Und jetzt?«, fragte Amicus.
Juda stand auf und ging zu ihm. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter. Seine dunklen Augen fixierten Amicus. »Betet«, sagte er und verließ die Kammer.
Fragend blickte Amicus zu Raphael. Der zuckte mit den Schultern. Er küsste Luna auf die Stirn und schlug eine Decke über ihren geschundenen Körper. »Wohlan«, sagte er. »Beten wir.« Er legte ebenfalls eine Hand auf Amicus’ Schulter und drängte sich dann an ihm vorbei.
»Wohin geht Ihr, Bruder Raphael?«, rief ihm Amicus hinterher.
»Schlafen«, kam die Antwort. »Und das solltet Ihr auch tun.«
»Aber …«, sagte Amicus. »Aber es ist doch erst früher Nachmittag.«
Raphael antwortete nicht. Amicus hörte nur, wie zwei Türen zufielen. Amicus warf noch einen letzten Blick auf Luna und Pierre. »Werdet gesund«, flüsterte er. »Beide.« Leise ging er hinaus und schloss die Tür. Was sollte er jetzt tun? Schließlich ging er hinunter und legte sich im Garten unter die Schatten spendenden Äste einer Kastanie. Noch während er überlegte, wie er die nächsten Stunden verbringen sollte, schlief er auch schon ein.
Oben, in der abgedunkelten Kammer, lagen Luna und Pierre nur drei Schritte voneinander entfernt. Zwei Stunden lang geschah nichts. Beide schliefen tief und fest. Dann plötzlich bellte in der Nähe ein Hund, und Pierre wachte auf. Er fuhr hoch und sah sich um. Wo war er hier? Die Erinnerungen der letzten Nacht stiegen in ihm hoch. Diese Räuberbande, die ihm hinterhältig aufgelauert hatte. Mir der Erinnerung kamen die Schmerzen. Als hätte ein Waschweib ihn durch eine riesige Mangel gedreht. Er tastete über seinen Körper und spürte die Verbände. Wer hatte ihn hierher gebracht und versorgt? Ächzend schwang er die Beine auf den Boden. Da entdeckte er das andere
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