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Hexengift

Titel: Hexengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.A. Pratt
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das Haar übers Gesicht und verbarg ihren Gesichtsausdruck. Marla mit ihrem Kurzhaarschnitt hatte keine derartigen Probleme. Mit halb zusammengepressten Augen spähte sie in den Wind, der alle Blätter von den Obstbäumen riss, sie über den Platz jagte und Marla ins Gesicht schlug. Sie ging in die Hocke, setzte sich auf ihre Fersen und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, bis alle Blätter weg waren. Als sie wieder aufsah, bewegten sich die Leinwandfassaden der Gebäude nur noch ganz leicht. Risse zogen sich in langen Bahnen über den bemalten Stoff und hinterließen Einschnitte, durch die es schwarz hindurchschimmerte. Dann zerrissen die Leinwände zu Fetzen, die wie Wimpel im Wind flatterten und den Blick auf die gerüstartige Unterkonstruktion freigaben. Das waren überhaupt keine Gebäude, es waren nur die Gerippe von Häusern …
    Und zwar Gerippe im wahrsten Sinn des Wortes, wie Marla jetzt sehen konnte. Der Anblick entsetzte sie mehr als alles andere, was sie bisher an diesem Ort erblickt hatte.
Denn anstatt aus Stahlträgern oder Holzbalken bestanden die Gerüste aus Knochen; sie sahen aus wie eine makabre Version von chinesischen Kastendrachen. Jetzt, da der Wind die Stoffverkleidung weggerissen hatte, konnte sie lange, weiße Oberschenkelknochen und überdimensionierte Wirbelkörper erkennen, an deren Enden und Fortsätzen noch Fetzen von Fleisch hingen. Diese Gebäude bestanden aus den Knochen von Titanen und Leviathanen.
    Abgesehen von der Tatsache, dass sie in Wahrheit aus überhaupt nichts bestehen. Das sind nur die Manifestationen der Gedanken einer bemitleidenswerten, psychisch kranken Frau . Marla brüllte, aber ihre Worte wurden von der Gewalt der Luft einfach hinweggerissen. »Genevieve! Ich kann Ihnen helfen! Kommen Sie mit mir, ich bringe Sie an einen sicheren Ort, zurück in Ihr Zimmer …«
    Genevieve schrie gegen den immer noch stärker werdenden Wind an.
    Marla drehte sich um und sah einen schwarzen Turm in der Mitte der Straße, die zuvor noch leer gewesen war. Die Spitze des Turms ragte weit in den Himmel auf, und er warf einen langen Schatten - einen Schatten, der genauso viel Substanz zu haben schien wie das Bauwerk selbst.
    Eine Silhouette trat aus dem Schatten. Der Mann trug einen langen, glänzend schwarzen Kutschermantel, der von den Hüften abwärts im Wind flatterte - genau die Art von Mantel, auf die Gothic-Typen abfuhren -, die weite Schärpe peitschte regelrecht im Wind, während er auf Marla zuging. Er hatte eine Glatze, weiß und weich wie der Kopf eines Champignons; seine Gesichtszüge konnte Marla aus der Entfernung nicht erkennen. Sie trat hinaus in den Wind,
wo sie sich gegen die Luft stemmen musste wie gegen eine Mauer, und brüllte: »Hey, du! Verpiss dich!«
    Als der Mann nur noch etwa fünf Meter weit entfernt war, glitten zwei lange Messer aus seinen Ärmeln und fielen ihm genau in die Hände. Er ging weiter, ohne seinen Schritt zu verlangsamen, die engstehenden, schwarzen Augen an Marla vorbei direkt auf Genevieve gerichtet. Die Leinwandfetzen an den knöchernen Gerüsten erinnerten Marla an mittelalterliche Banner und blutverschmierte Schlachtstandarten. Sie ging in Kampfstellung, die Füße schulterbreit auseinander. Ohne jegliches Instrumentarium gegen einen mit zwei Messern bewaffneten Mann anzutreten konnte schwierig werden, insbesondere mit dem Wind, der sie ständig umzuwehen drohte, aber Marla würde auf keinen Fall tatenlos danebenstehen und zusehen, wie Genevieve aufgeschlitzt wurde - vielleicht war es nur ein Reflex, aber es schien ihr natürlicher, sich auf die Seite einer unbewaffneten Frau zu schlagen als auf die eines messerschwingenden Verbrechers, der sich kleidete, als hätte er ein paar Hollywoodfilme zu viel gesehen.
    Stofffetzen rissen sich von Gerüsten los und flatterten auf sie zu. Einer schlug Marla direkt ins Gesicht, traf ihre offenen Augen und ließ sie ein paar Schritte nach hinten taumeln. Blind und halb am Ersticken zerrte und riss Marla an dem Stück Leinwand.
    Als sie es endlich losbekam, hörte der Wind abrupt auf. Mit dem Stück Stoff in der Hand stand Marla da und wäre beinahe vornübergefallen, als der Boden sich unter ihren Füßen bewegte.
    Wieder veränderte sich alles. Kein grasbewachsener Platz
mehr, keine Knochenbauten, keine entlaubten Bäume und auch keine schwarz gekleideten Champignonköpfe oder kreischenden, flüchtigen Magierinnen mehr. Marla war wieder in ihrer eigenen, eisigen Stadt, stand neben einer Steinbank

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