Hexengift
mitten auf einer menschenleeren Straße. Aber den Stofffetzen hatte sie immer noch in der Hand, schwer und dick mit roten Ziegelmustern bemalt. Außerdem war ihr Mantel weg, und sie zitterte.
Sie ließ den Stofffetzen auf den Gehweg fallen und tat ein paar tiefe Atemzüge. Bei dem Versuch, sich wieder halbwegs zu orientieren, merkte sie, dass es gar nicht mehr weit zu Rondeaus Club war - sie befand sich über zwanzig Häuserblocks entfernt von der Stelle, an der sie in diesen nach Orangen duftenden Albtraum hinübergeglitten war, ohne dass sie die dazwischenliegende Strecke zurückgelegt hätte.
Vielleicht waren die Distanzen an jenem anderen Ort einfach kürzer. Im Hyperraum verlor Marla manchmal die Orientierung; sie mochte keine Raumfalten. Geheimkabinettchen im Gewebe der Wirklichkeit gingen ihr auf die Nerven. All diese dreidimensionalen Welten mussten doch irgendwo herkommen . Und wenn man derart unverfroren an der Realität herumspielte, musste das zwangsläufig Konsequenzen haben. Deshalb waren Manipulatoren so gefährlich. Sie waren die Flaschengeister, die einem unbegrenzt viele Wünsche erfüllten, aber jeden davon mit unvorhersehbaren Folgen. Es konnte Jahre dauern, bis die kleinen Erschütterungen ihre volle Wirkung offenbarten, wie ein Tsunami, der immer zerstörerischer wurde, je näher er der Küste kam …
Sie hastete zum Club und ging in Gedanken bereits alle
Möglichkeiten durch. Sie musste die Situation mit Genevieve irgendwie unter Kontrolle halten. Die Lage war ernster, als sie zunächst geglaubt hatte. Eine psychisch kranke Manipulatorin auf freiem Fuß war keine hinnehmbare Situation, schon gleich gar nicht mit der in ein paar Tagen anstehenden Magierversammlung. Sie musste Langford anrufen und gemeinsam mit ihm diese bedauernswerte Frau dingfest machen.Vielleicht konnte sie ihn auch dazu bringen, ihr Zealand ans Messer zu liefern, wenn er schon gerade dabei war. Und wenn Langfords Künste nicht ausreichten, dann musste sie eben die Zähne zusammenbeißen und Gregor um Hilfe bitten. Er war mit Abstand der Beste, wenn es darum ging, die Verwerfungen möglicher Zukünfte auszuloten und die damit verbundenen Wahrscheinlichkeiten zu sondieren. Und auch wenn das in der Praxis gleichbedeutend damit war, dass er sich aufführte wie ein arrogantes Arschloch, als wüsste er besser Bescheid als alle anderen, dann hieß das noch lange nicht, dass Marla ihn nicht benutzen konnte. Er schuldete ihr Amtstreue, ob ihm das passte oder nicht - schließlich war sie der Boss von Felport, und wenn er damit nicht zurechtkam, stand es ihm jederzeit frei, die Stadt zu verlassen oder zu versuchen, sie zu stürzen. Wobei das Letztere nicht sehr wahrscheinlich war; Gregor war ein Seher, kein Kämpfer. Seine Hellsichtigkeit hatte ihn reich gemacht - für jemanden, der die Zukunft, wenn auch mit einer gewissen Ungenauigkeit, voraussagen konnte, waren Termingeschäfte ein Kinderspiel -, und die meisten großen Fische in der Stadt schuldeten ihm einen Gefallen für all die Informationen, mit denen er sie im Lauf der Jahre versorgt hatte. Gregor war der Beobachter, der sich stets im Verborgenen
hielt, und damit praktisch das genaue Gegenteil von Marla. Sie konnten einander nicht ausstehen, aber wenn er das geeignete Werkzeug für diesen Job war, würde sie sich seiner einfach bedienen.
Sie ließ ihr Handy aufklappen und hämmerte auf die Tasten. »Rondeau! Ich hab dir jemanden rüber zum Club geschickt. Sein Name ist Ted, er ist mein neuer Sekretär. Du musst ihm die Karteikästen erklären.«
»Die Karteikästen erklären?«, fragte Rondeau. »In welchem Jahrhundert lebst du eigentlich? Wir haben unsere Sachen alle im Computer. Besser gesagt, da sollten wir sie eigentlich haben. In deinem Büro gibt es nur einen riesigen Haufen Notizzettel und Visitenkarten auf dem Schreibtisch.«
»Wie auch immer. Zeig ihm einfach, wo alles ist.« Dann klappte sie das Telefon wieder zu. Wind kam auf, und Marla blickte nach oben, halb in der Erwartung, die Gebäude um sie herum würden wieder zu flattern beginnen. Doch im Moment blieb alles unverändert; Metall, Glas und kalter Beton, wie es sich eben gehörte. »Diese lästigen Manipulatoren.« Marla zog den Kopf ein und lief weiter. »Als ob es nicht schon schwer genug wäre, mit der Welt zurechtzukommen, so wie sie ist.«
5
»Ich bin sehr enttäuscht, Sie zu sehen«, sagte Gregor, »es sei denn, Sie haben Marlas Herz dabei.« Er saß in einem tiefen Ledersessel hinter einem
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