Hexengold
gewissenlosen Gewalttäter zu werden. Dem Aufschlitzen der Kehle aber war sie entgangen. Ob ihr langsames Dahinsiechen weniger furchtbar war, vermochte Adelaide nicht zu entscheiden.
Zum Wegrennen war es zu spät. Die Alte hatte sie entdeckt und erkannt. Aus halbtoten Augen blickte sie ihr entgegen.
»Stein-a-cke-rin!« Jede Silbe keuchte sie mehr heraus, als dass sie sie sprach. »Eu-re Ba-se – die Hexe. Das – war – sie! Ih-re Ra-che!«
Die mühsam ausgestoßenen Worte der Sterbenden zu vernehmen war pure Marter für Adelaide. Nie wieder würde sie dieses Stöhnen vergessen, diese bittere Anklage der Sterbenden aus ihrem Gedächtnis verbannen können. Es war einzig ihre Schuld, dass die arme Pohlmann so dachte. Auch wenn Adelaide es nicht ausdrücklich gesagt hatte, so hatte sie doch alles darangesetzt, dass die anderen ihre Base für eine Hexe hielten.
Adelaide wusste, was das bedeutete. Beschämt schloss sie die Augen. Sie hatte es wieder getan. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, sie schüttelte sich vor Kälte und Gram. Bilder aus frühester Kindheit stiegen in ihr auf. Aus purer Missgunst hatte sie das schlimme Unheil angestoßen. Bei der Erinnerung begann die verdrängte Qual von neuem: zwei riesige Scheiterhaufen draußen vor der Stadt, unzählige Menschen mit hämischem Ausdruck auf den Gesichtern um sie herum. Mittendrin aber fanden sich ihre Eltern und die beiden Geschwister, festgebunden an mächtige Pfähle. Gleich kam der Henker mit der Fackel, um das Feuer anzuzünden. Vor Adelaides Augen verbrannten sie alle, viele Jahre lang jede Nacht, immer dann, wenn sie meinte, endlich in erlösenden Schlaf fallen zu können. Nie würde sie die Schreie vergessen und die unermessliche Qual, die auf den geliebten Gesichtern eingeschrieben gewesen war. Und das alles nur, weil sie die Geschwister hatte bloßstellen wollen und lauthals der Teufelsbuhlschaft bezichtigt hatte! Blinde Angst, vor den Eltern hinter den beiden zurückstehen zu müssen, hatte die kleine Adelaide dazu verleitet. Niemand in Bamberg hatte das als Kleinmädchenstreich verstanden. Voller Entsetzen hatte die kaum Zehnjährige das viel zu spät begriffen.
Inzwischen war sie eine erwachsene Frau – und hatte denselben Fehler abermals begangen: Sie hatte Magdalena übel verleumdet, um selbst besser dazustehen. Vielleicht war es dieses Mal noch nicht zu spät, vielleicht konnte sie das Schlimmste noch verhindern. »Neeiiiin!«, schrie sie auf, zutiefst gepackt von Wut und Verzweiflung. »Neeeiiiin und nochmals neiiiiin!« Erschöpft rang sie nach Luft.
»Meine Base Magdalena ist keine Hexe«, sagte sie schließlich leise zu der sterbenden Frau. »Ihr müsst mit dem Unfug aufhören, meine Liebe. Denkt daran, was Euch bevorsteht. Ihr dürft das nicht sagen, sonst werdet Ihr selbst niemals Euer Seelenheil erlangen. Es gibt keine Hexen, das wisst Ihr genauso gut wie ich. Also hört damit auf, meine Base als Hexe zu bezeichnen.«
Sie sank auf die Knie, krümmte und wand sich vor Schmerz, weinte sich schließlich hemmungslos das ganze Unglück aus dem Leib. Es tat gut, unendlich gut. Nach all den Jahren wurde ihr endlich die furchtbare Last von der Seele genommen.
20
Zunächst meinte Magdalena, aus einem lange währenden Schlaf zu erwachen. Das Bild, das sich ihr an diesem späten Nachmittag kurz vor Thorn bot, wurde mit jeder Stunde vertrauter, obwohl sie nie zuvor in der Gegend gewesen war.
Je weiter sie sich umsah, desto mehr schien es ihr, als wäre der Große Krieg nie zu Ende gegangen. Als hätte sich seit dem Memminger Friedensfest vor zehn Jahren nichts verändert. Die Dörfer ringsumher lagen wie ausgestorben. Die Brandspuren an den Mauern zeugten von den Feuern, die vor nicht allzu langer Zeit noch darin gewütet hatten. Keine Menschenseele tauchte zwischen den rußgeschwärzten Ruinen auf, keine Katzen streunten umher, kein Hundegebell durchbrach die Stille. Nicht einmal ein Huhn gackerte und pickte Krumen vom Boden auf. Selbst Schwalben und Störche, die sonst so gern in den Mauernischen oder auf den höchsten Zinnen nisteten, waren aus den verödeten Siedlungen geflüchtet. Das Fehlen des vorlauten Gezwitschers von Spatzen und Amseln lastete schwer auf der Gegend. Umso lauter drang das Zirpen der Grillen an ihr Ohr.
Bis zum Horizont hinauf setzte sich die breite Schneise der Verwüstung über die umliegenden Felder fort. Dort, wo um diese Jahreszeit längst das erste Korn heranreifen sollte, hatten zigtausend
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