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Hexengold

Hexengold

Titel: Hexengold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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Etappe auf dem Weg zu Mathias. Wenn sie jetzt aufgab, würde sie ihn nie mehr erreichen. Das aber war völlig ausgeschlossen. Also musste sie das Schreckliche hinter sich bringen, um an ihr Ziel zu gelangen.
    Behutsam setzte sie den rechten Fuß nach vorn, zog den linken nach, bis die Bewegung selbstverständlich wurde und sie wieder weiterging. Dann stand sie vor dem Toten und sah auf ihn hinunter.
    Es war ein erwachsener Mann. Die Erleichterung fühlte sie bis in die äußersten Haarspitzen. Endlich konnte sie ihn genauer ansehen. Seltsam verkrümmt lag er auf dem Bauch, das Gesicht zu Boden gerichtet, den Hinterkopf von dem Hieb eines Knüppels zerschmettert. Über die verkrusteten Wundränder krabbelten Fliegen. Adelaide tippte den Leichnam mit der Fußspitze an, wagte aber nicht, niederzuknien und ihn umzudrehen.
    Seine Kleidung erinnerte sie an einen der Wachmänner, die Helmbrecht zu ihrem Schutz gedungen hatte. Acht waren es zuletzt gewesen sowie drei Fuhrleute für die Wagen. Sogleich überfiel sie eine Ahnung, keinen von ihnen mehr lebend vorzufinden. Dazu waren es zu viele Räuber gewesen.
    Seltsamerweise beruhigte sie die Erkenntnis. Sie musste keinem Halbtoten gegenübertreten und Trost spenden. Für das, was letzte Nacht geschehen war, gab es keinen Trost, für nichts und niemanden. Am wenigsten von ihr. Zu viel hatte sie erleiden müssen. Wieder übermannten sie Übelkeit und Abscheu. Abermals erbrach sie sich zur Seite.
    Als die Krämpfe nachließen, reifte eine weitere Einsicht in ihr: Wenn alle tot waren, gab es auch keinen mehr, der von ihrer entsetzlichen Schmach erzählen konnte. Ein eigenartiges Gefühl von Erleichterung überkam sie. Und doch hoffte sie, Helmbrecht und Mathias lebten noch. Ihr Sohn musste einfach schweigen, Helmbrecht ebenso. Spätestens dann, wenn sie ihm sein klägliches Versagen vor Augen führte, blieb ihm keine Wahl. Er hatte sie nicht vor dem Unheil beschützen können. Sie musste die beiden finden. Entschlossen stolperte sie weiter.
    Hinter einem Gestrüpp fand sie den nächsten Leichnam, am niedergebrannten Feuer den dritten. In immer größeren Abständen lagen die Toten bis zum Dickicht des Waldes. Bedächtig schritt sie die traurige Reihe ab. Am Waldrand stieß sie auf Pohlmann. Sein zerschossenes Gesicht bildete einen Festschmaus für krabbelndes und fliegendes Getier. Auch wenn es bereits bis zur Unkenntlichkeit entstellt war, zerstörten die Überreste der prächtigen Kaufmannskleidung jeden Zweifel an seiner Person.
    Mathias und Helmbrecht waren nirgendwo zu entdecken. Das nährte ihre Hoffnung, die beiden lebend zu finden. Gewiss waren sie den Räubern gefolgt, um ihnen die gerechte Strafe für das Gemetzel zu erteilen. Unschlüssig, ob sie diese Vorstellung für eine gute oder eine schlechte Idee halten sollte, kehrte sie noch einmal zu den kläglichen Resten des Lagers zurück. Sie musste den Schmutz von sich entfernen und bessere Kleidung suchen. Dann erst konnte sie sich daranmachen, den tapferen Helden nachzueilen.
    Eine seltsame Scheu erfasste sie, hinter den umgekippten Wagen der Pohlmanns zu schauen. Ein leises Stöhnen wurde vernehmbar. Adelaides Herz krampfte sich zusammen. Es lebte doch noch jemand außer ihr! Plötzlicher Schwindel ließ sie taumeln. Sie lehnte sich gegen die Seitenwand des Wagenkastens und zwang sich, gleichmäßig zu atmen. Es konnte sich nur um eine der Frauen handeln, beruhigte sie sich. Die Männer hatte sie allesamt gefunden. Tot. Bis auf Helmbrecht und Mathias. Die aber hatten eine Aufgabe: Rache!
    Vorsichtig spähte sie um die Ecke des riesigen Fuhrwerks, atmete abermals auf. Kein Mann war dort zu sehen. Zwischen den Trümmern des Gepäcks lagen lediglich die Körper der anderen Frauen. Auch sie zeigten schreckliche Spuren roher Gewalt. Die junge Pohlmännin sowie Hanna waren tot. Nachdem sich die Bestien aufs grausamste an ihnen vergangen hatten, hatten sie ihnen die Kehlen aufgeschlitzt. Weit klafften die Wunden. Der süßliche Geruch nach Blut und Fleisch war ekelerregend. Adelaide wandte sich entsetzt ab. Fürchterliche Erinnerungen stiegen in ihr hoch. In jeder Faser ihres Körpers spürte sie die unerträgliche Schande, die man ihr zugefügt hatte. Nur, wenn niemand davon wusste, konnte sie das je vergessen. Sie zwang sich, ein weiteres Mal zu den leblosen Gestalten hinzuschauen.
    Die Kaufmannswitwe gab noch ein schwaches Lebenszeichen von sich. Ihr fortgeschrittenes Alter hatte sie zwar nicht davor bewahrt, Opfer der

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