Hexengold
Vorteile zu verschaffen, halte ich für eine der größten Dummheiten, die es geben kann. Und jetzt entschuldigt mich. Ich sollte mir etwas überziehen. Es ist unverzeihlich, wie lange ich Euch schon diesen unpassenden Anblick geboten habe.«
Würdevoll erhob er sich und schritt zur Truhe. Die Schmerzen in seiner Schulter schienen bereits nachgelassen zu haben. Ohne sie um Hilfe zu bitten, streifte er sich das dort bereitliegende Hemd über. Die Hose nahm er in die Hand und verschwand damit über die Stiege ins obere Geschoss.
Gedankenverloren betrachtete Adelaide die steile Treppe. Bald verschwammen die Umrisse der einzelnen Stufen in den Grau- und Schwarztönen der anbrechenden Abenddämmerung. Helmbrechts Worte verhallten, ohne dass sie etwas darauf erwiderte. Es war nicht mehr wichtig für sie.
So wie die Konturen der Gegenstände löste sich allmählich das klare Bild von Mathias in ihren Gedanken auf. Dieser Prozess hatte schon lange vor dem gestrigen Überfall begonnen. Seit dem Tod Vinzents hatte sie kaum noch wahrgenommen, was mit dem Jungen geschah. Sie seufzte. Einst hatte sie seine ersten Atemzüge argwöhnisch bewacht, ihn bei den ersten Schritten fürsorglich an die Hand genommen. Nun, da ihm Flügel gewachsen waren und er sich kühn der weiten Welt entgegenschwang, hatte sie ihn aus den Augen verloren. Wahrscheinlich war es besser so. Bei seinem ungestümen Flug der Sonne entgegen wäre sie ihm nur eine Last, die ihn auf die Erde zurückzöge. Um sich das auszumalen, brauchte sie nur daran zu denken, welches Bild er in der vergangenen Nacht vor Augen gehabt hatte. Nichts war mehr übrig geblieben von der klugen, standesbewussten Kaufmannsfrau aus Frankfurt am Main. Unzählige Male hatte man sie geschändet, bis zur Ohnmacht grausam missbraucht. Bei der Erinnerung schauderte sie noch immer. Und Mathias hatte es mit ansehen müssen. Seither hielt er sie für tot. In gewisser Hinsicht war sie das auch. Manchmal war es besser, bestimmte Vorstellungen unwidersprochen stehen zu lassen.
Schweren Schrittes ging sie zum niedrigen Fenster, beugte sich vor und sah hinaus. Die anbrechende Nacht verlieh der Welt dort draußen eine unendliche Tiefe. Morgen früh schon wollte Adelaide fortgehen. Ohne Ziel, sie würde sehen, wohin es sie verschlagen würde. Wenn niemand sie mehr brauchte, musste sie keine Rücksichten mehr nehmen. Sie war frei. Fortan zählten nur mehr ihre eigenen Wünsche.
Auf dem Boden ihrer Seele keimte bereits eine vage Idee, was sie anfangen wollte. Viel zu lange hatte sie den Wunsch unterdrückt, immer wieder heftig gegen ihn angekämpft, obwohl sich oft genug Gelegenheit geboten hatte, ihn auszuleben: in die Fußstapfen der Eltern zu treten und als Apothekerin zu arbeiten. Je länger sie darüber nachdachte, umso mehr nahm die Idee Gestalt an.
23
Die Atmosphäre im Quartier der schwedischen Besatzer Thorns schüchterte Carlotta ein. Noch mehr aber beunruhigte sie die Wirkung auf ihre Mutter. Selten hatte sie sie derart verwirrt erlebt. Kaum standen sie dem schwedischen Hauptmann gegenüber, erbleichte Magdalena. Über seinen unfreundlichen Worten wurde ihr Gesicht mitsamt der sonst so fröhlich leuchtenden Sommersprossen sogar noch blasser. Die smaragdgrünen Augen verloren an Glanz, die roten Locken hingen traurig von dem schmalen Kopf. Carlotta biss sich auf die Lippen. Offenbar kannten die beiden sich von früher. Der Hohn, mit dem er ihren Namen aussprach, ließ darauf schließen, wie wenig er von ihr und ihren Fertigkeiten als Wundärztin hielt. Wahrscheinlich war das auch der Grund für Magdalenas Erschrecken. Sein Leiden selbst war es jedenfalls nicht.
Auf den ersten Blick war zu erkennen, wie stark er an Magenkrämpfen litt. Mochte er drohen, wie er wollte – es bestand kein Grund, Schlimmes für ihn zu befürchten. So schmerzhaft die Anfälle waren, lebensbedrohlich wirkten sie nicht. Sonst hätte er sich kaum derart im Sessel fläzen und seine Leute so rüde in Schach halten können. Auch über Fieber und Übelkeit schien er nicht zu klagen, Bewusstseinstrübungen lagen keine vor. Solange er zu solch üblen Ausfällen fähig war, bestand kein Grund zur Besorgnis.
»Zuerst muss ich Euch gründlich untersuchen, Lindström«, kündigte die Mutter mit zitternder Stimme an. »Am besten legt Ihr Euch dort hinten aufs Bett. Zieht zuvor Rock und Hemd aus. Ich muss Euren Leib genau vor mir sehen.«
»Das gefällt dir, mein Täubchen, was?« Ächzend schälte sich Lindström aus
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