Hexengold
zu welchen Grausamkeiten Lindström fähig war. Dunkelrot zeichneten sich die Spuren seiner Finger auf der hellen Haut ab. Wenn er selbst im ärgsten Krampf noch so zupackte, malte sie sich lieber nicht aus, zu welcher Pein er in der Lage war, wenn er erst einmal gesund war. »Welche Arzneien brauchen wir überhaupt? Hast du schon eine Idee, was die heftigen Krämpfe verursacht? Dir muss etwas einfallen, Mutter, rasch! Spätestens, wenn es ihm morgen früh weiterhin schlecht geht, wird er seine Ankündigung wahr machen und uns ans Messer liefern.«
»Was?« Magdalena schien aus tiefsten Gedanken gerissen. »Warum hat er solche Schmerzen? Sind es Steine oder was steckt dahinter?«, wiederholte Carlotta ungeduldig. Während sie die Frage aussprach, wurde ihr bewusst, wie aussichtslos die Lage war: Selbst wenn es eine so naheliegende Lösung wie etwa ein Steinleiden gab, war es ausgeschlossen, die erforderlichen Maßnahmen zur Behandlung zu ergreifen. Nie und nimmer würde Lindström zustimmen, dass sie ihn aufschnitten, um einen Stein aus seinem Leib zu entfernen. Aus Angst, sie wollten ihn umbringen, würde er sich nicht einmal Branntwein oder anderes zur Betäubung einflößen lassen. Damit fielen die gängigsten Methoden aus, ihn zu behandeln.
»Welche Tropfen hast du ihm vorhin eigentlich gegeben?«, fragte sie weiter. »Bist du sicher, dass er sich an deine Anweisungen hält und sie nicht doch alle auf einmal in sich hineinkippt? Groß genug schien seine Verzweiflung. Stirbt er aber, sind wir die Ersten, die seine Leute aufspießen. Die Stadt ist eine Falle. Lebend kommen wir hier wohl nicht heraus.«
»Wie? Was? Natürlich.« Auf einmal lachte Magdalena. Das Leuchten kehrte in ihre smaragdgrünen Augen zurück, der erste Schimmer des aufgehenden Mondes zauberte eine geheimnisvolle Kraft hinein. »Mach dir keine Gedanken, mein Kind. Die Tropfen sind absolut harmlos, in jedem Fall aber gut gegen Seitenstechen. Ein bisschen Ehrenpreis, Wegwart, zerstoßene Rosenblätter sowie Anis- und Fenchelsamen, in Wasser gekocht und dann gesiebt. Wenn er das trinkt, wird nicht viel passieren. Selbst ohne Wein kann er meinetwegen gern die gesamte Menge auf einmal trinken, ohne großen Schaden zu nehmen.«
»Was? Aber wie sollen sie ihm helfen, weniger Krämpfe zu verspüren?«
»Allein der Glaube ist es, der oft Berge versetzt!« Das Lachen auf dem geliebten Gesicht wurde noch breiter. Schon wollte Carlotta sie wachrütteln. Sie fürchtete, ihre Mutter fiele endgültig dem Wahnsinn anheim.
»Keine Sorge, Kleines. Erstens helfen die Tropfen wie gesagt ausgezeichnet gegen Seitenstechen. Das nimmt ihm schon einmal eine Sorte seiner Beschwerden. Und außerdem ist es eine altbekannte Tatsache in der Heilkunst, dass Patienten mitunter eine Besserung verspüren, allein weil sie glauben, das Mittel, das man ihnen verabreicht, müsste bereits gegen die Ursachen helfen. Selbst reines Wasser oder Wein kann diese Wirkung erzielen. Sie
wollen
einfach, dass es so ist. Das reicht aus. Bei Lindström wird die Wirkung zwar nicht allzu lange anhalten, dazu ist er einfach zu misstrauisch. Aber wenigstens eine Weile wird es ihm besser gehen. Alles, was wir beide brauchen, ist nämlich Zeit.«
»Und wozu?« Carlotta trippelte auf der Stelle. »Solange du nicht weißt, was ihn quält, nützt uns alle Zeit der Welt nichts.«
»Die brauchen wir auch gar nicht. Eine knappe Woche ist schon mehr als genug.«
»Aber er will vor Mitternacht eine Lösung!« Zornig stampfte sie mit dem Fuß auf.
»Das werde ich schon hinkriegen, lass das mal meine Sorge sein.« Damit packte Magdalena sie am Arm und marschierte die Straße bis zur großen Querstraße hinauf.
»Du weißt also schon, was hinter seinen Schmerzen steckt?« Atemlos keuchte Carlotta die Worte heraus. Es fiel ihr nicht leicht, Schritt zu halten.
»Aber natürlich, mein Kind«, erklärte Magdalena und wandte sich an der nächsten Hausecke nach links. Von dort aus hielt sie geradewegs auf das prächtige Rathaus zu. Trotz der vorgerückten Stunde herrschte reger Betrieb. Es gelang Carlotta nicht, die Mutter weiter über Lindström zu befragen. Immer wieder wurden sie voneinander getrennt, mussten Betrunkenen oder einem Trupp marschierender Wachleute ausweichen.
Um das Rathaus herum erstreckte sich der weit ausladende Marktplatz. Zu Friedenszeiten wurden dort an festen Ständen die vielfältigsten Waren feilgeboten. Seit Jahrhunderten war Thorn eine wichtige Handelsstadt. Nun trieben sich
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