Hexengold
Also erhob sie sich, trat zum Fenster und schob die schweren Vorhänge auseinander.
Dunkel gähnte die Nacht. Der Himmel war lange nicht so finster wie in Frankfurt. Graue Schlieren zeigten, wie viel weiter östlich sie sich befanden. Bald schon würde der Tag anbrechen. Erleichtert lehnte Magdalena die Stirn an das kühle Glas. Der Nachtwächter drehte gemächlich seine Runden. Magdalena fürchtete sich davor, zurück ins Bett zu kriechen und sich abermals den seltsamen Träumen hingeben zu müssen. Also zog sie sich den Stuhl ans Fenster und verbrachte dort die Zeit bis zum Sonnenaufgang.
Die ersten Sonnenstrahlen weckten Carlotta. Überrascht stellte Magdalena fest, dass sie doch noch einmal für kurze Zeit eingenickt war. Sie erwachte, als die Dreizehnjährige neben ihr stand und ihr sanft die Wange streichelte.
»Du hast doch nicht etwa die ganze Nacht hier gesessen?«
»Nein, nein«, beeilte sich Magdalena zu versichern. »Ich bin eben erst aufgestanden und habe mich hierhergesetzt. Wir sollten uns anziehen und eine Kleinigkeit zu uns nehmen. Als Fremde schickt es sich nicht, zu spät zum Gottesdienst zu kommen, erst recht nicht an Pfingsten, dem Fest des Heiligen Geistes.«
Die Wirtin staunte nicht schlecht, als Magdalena sie nach einer katholischen Messe fragte.
»Ihr seid doch nicht etwa katholisch?« Augen und Mund weit aufgerissen, gab sich die rundliche Frau keine Mühe, ihren Missmut zu verbergen. Gerade hatte sie einen großen Schinken auf den Tisch gestellt und einen zweiten Krug Milch sowie frisches Bier auftragen lassen. Hafergrütze, Gerstenbrei, Käse, Brot und Mus fehlten ebenso wenig. Magdalenas Frage aber ließ sie stutzen, als bereute sie die Großzügigkeit gegenüber jemandem, der in ihren Augen die falsche Konfession hatte.
»Was ist so schlimm daran?« Magdalena runzelte die Stirn. »Auch wenn die meisten Bürger hier Protestanten sind, wird es in einer Kaufmannsstadt wie dieser noch andere Kirchen geben. Gestern habe ich beispielsweise Polen getroffen. Die werden doch auch ihr Gotteshaus haben.«
»Nicht nur die Polen«, murmelte die Wirtin und wischte mit dem Tuch über die Holzplatte des Tischs. »Am besten geht Ihr hinüber in die Marienkirche auf dem Sackheim. Das liegt noch hinter dem Löbenicht. Ich gebe Euch eine meiner Mägde mit. Die Lina ist auch katholisch. Jeden Sonntag hockt sie dort beim Pfaffen und lauscht ihm andächtig. Wenn sie nicht so tüchtig wäre, hätte ich sie längst wieder zu ihresgleichen geschickt.«
Sie warf einen letzten, bedauernden Blick auf die reich gedeckte Tafel und sah kurz zu Magdalena. Als sich ihre Blicke trafen, zuckte die Wirtin kaum merklich zusammen. Im selben Moment verschwand der mürrische Ausdruck auf ihrem Antlitz und machte einem Lächeln Platz, unsicher zunächst, dann aber klar und gewinnend.
Wie schon gestern so hatte Magdalena auch in diesem Moment das Gefühl, es steckte noch etwas anderes als der gewöhnliche Kampf zwischen Neugier und Misstrauen einem Fremden gegenüber dahinter. Bevor sie sich ein Herz fassen und fragen konnte, kehrte die stämmige Frau ihr den Rücken und verschwand in der Küche.
4
Die Ungeduld, was sie am Montag in der Börse und bei der Kaufmannsgilde in Erfahrung bringen mochten, erschwerte es Magdalena und Carlotta, den Sonntag zu genießen. Dabei machte er seinem Namen alle Ehre und ließ die Junisonne von einem strahlend blauen Firmament scheinen. Kleine weiße Schönwetterwolken segelten über das Himmelszelt, der zarte Wind sorgte für angenehme, frische Luft. Trotzdem konnte sich Magdalena nicht daran ergötzen. Auch die Feierlichkeit des Pfingsthochamts in der erst vor wenigen Jahrzehnten geweihten Marienkirche zog sie nicht lange in Bann. Beim Blick über die Anwesenden fiel ihr auf, dass nur wenige Angehörige der Kaufmannszunft unter den Gläubigen anzutreffen waren. Das erklärte im Nachhinein die abfällige Reaktion der Wirtin aus dem Grünen Baum. In Königsberg zählten offenbar vor allem die niederen Stände sowie Litauer und Polen zu den Katholischen. Die angesehene Bürgerschaft hingegen gehörte zu den Lutherischen, wie ehedem die Ahnen ihres Vaters sowie Eric und seine Familie. Darüber schweiften ihre Gedanken ab, zurück in lang vergangene Zeiten, als sie an der Seite ihrer Eltern während des Großen Krieges die Gottesdienste in den von den Kaiserlichen belagerten Städten besucht hatte. Es fiel ihr schwer, zur Andacht in St. Marien auf dem Sackheim zu Löbenicht
Weitere Kostenlose Bücher