Hexengold
sechsjährige Mädchen, das voller Angst durch das brennende Magdeburg geirrt war. Wie aus dem Nichts war der zwölfjährige Eric vor ihr gestanden, hatte all den Kummer über den Tod seiner Eltern verdrängt und sie tapfer aus dem Feuer herausgeführt, mitten hinein in das Lager seiner ärgsten Feinde. Kein halber Tag war vergangen, seit sie ihm alles genommen hatten – die Familie, das Zuhause, sämtliches Vermögen sowie den Glauben an das Gute im Menschen.
Bei der Erinnerung an das Leid, das ihm seinerzeit durch die Ihren widerfahren war, kullerten abermals die Tränen über Magdalenas Wangen. Die Worte der Wirtin klangen ihr in den Ohren. »So hat Gott ihnen also doch noch die gerechte Strafe zuteilwerden lassen«, hatte sie vor einer Woche erst zu ihr gesagt. War es wirklich so einfach, die Qualen der einen mit denen der anderen aufzurechnen wie die Zahlen im Kontorbuch? Dann waren Eric und sie wenigstens darüber miteinander quitt. Einzig die Aussprache über die Geschehnisse der letzten Wochen stand noch aus. Hatte sie Glück, fand er noch genug Kraft, auch das wieder ins Lot zu bringen. Sie hob den Bernstein an den Mund und hauchte einen Kuss darauf. Ihre Lippen zitterten, als sie zu sprechen begann. »Sieh nur«, mühsam presste sie die Worte hervor, »wieder einmal hat der Bernstein uns beide zusammengeführt. Er trotzt allen Widrigkeiten des Lebens. So sollte es auch mit unserer Liebe sein. Sie muss alles aushalten, auch, dass wir einander über die Wahrheit eine Zeitlang im Unklaren lassen.«
Eric wandte den Kopf zu ihr. Sie erschrak, als sie die tiefen Höhlen sah, in die seine Augen eingesunken waren. Die Wangenknochen wirkten wie ein unüberwindbarer Wall, der die Augen immer weiter nach innen drängte. Es schien, als hätte Eric in den letzten Stunden abermals an wertvollem Lebenssaft verloren. Umso schärfer ragte die Nase aus dem eingefallenen Antlitz. Die Furche zwischen den Augenbrauen war tief eingegraben. Und doch umspielte seine Mundwinkel in diesem Moment das altvertraute Schmunzeln. Ein lang vermisster Glanz trat in seine Augen. »Was redest du da? Wieso sollten wir einander über die Wahrheit im Unklaren lassen?«
Seine Stimme war ein schwacher Abglanz des früheren, kraftvollen Tenors. Trotzdem überflutete Magdalena eine Woge der Erleichterung. Eric konnte wieder reden! Und nicht nur ein paar stammelnde Laute, sondern gut verständliche Sätze. Zudem zeugten seine Worte von klarem Verstand.
Sie beugte sich über ihn, strich ihm zärtlich über die Wangen und küsste ihn auf die Nasenspitze. Er schloss die Augen. Sie spürte seinen Atem schwach auf der Haut. Er ging gleichmäßig. Das Fieber war nicht wieder zurückgekehrt. Prüfend befühlte sie seine Stirn, tastete nach dem Puls. Tatsächlich. Die Hitze hatte endgültig nachgelassen. Erleichtert sank sie auf die Bettkante, nahm seine Hand in die ihre und betrachtete ihn aufmerksam. Wie so oft versank sie in dem unendlichen Blau seiner Augen, vergaß darüber für eine Weile Zeit und Raum, fühlte sich zurückversetzt in das Lager vor Amöneburg. Zwölf Jahre lag das zurück. Auch dort hatte Eric nach einer langen Trennung in erbärmlichem Zustand vor ihr gelegen, dem Tod ähnlich nah wie jetzt. Damals war es ihr gelungen, ihn ins Leben zurückzuholen. Selbst vor dem Tod am Galgen hatte sie ihn bewahrt. Eine Rettung sollte also auch jetzt wieder möglich sein, sie musste nur daran glauben. Entschlossen richtete sie sich auf.
Unten im Gasthaus erwachten Gesinde und Wirtsleute. Magdalena hörte das emsige Trappeln der kleinen Füße von Lina, der katholischen Magd, auf den Holzdielen im Flur. Ihr folgten Carlottas leichtfüßige Schritte die Stiege vom Dachgeschoss herunter. Seit Erics Ankunft teilten sich die beiden dort oben eine Kammer.
»Ich höre Carlotta«, sagte sie lächelnd.
»Carlotta ist auch hier? Wo hat sie die ganze Zeit gesteckt?« Eric machte Anstalten, sich ebenfalls aufzusetzen. Die Freude auf ein Wiedersehen mit seiner Tochter war ihm deutlich anzusehen.
»Bleib liegen«, mahnte Magdalena. Seine Frage versetzte ihr einen Stich. Kannte er sie so wenig? Sie stopfte ihm das Kissen bauschiger in den Nacken. Dadurch wurde sein Kopf höher gebettet. »Wie kannst du nur denken, ich hätte sie allein in Frankfurt zurückgelassen? Natürlich ist sie mit mir nach Königsberg gekommen. Sie schläft oben bei den Mägden und hilft der Wirtin in der Küche ein wenig aus. Auch mit den Apothekern in der Stadt hat sie schon
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