Hexengold
sie sich langsam öffnete.
10
Eine seltsame Stimmung lag in der Luft, als Carlotta die Wohnstube betrat. Sofort hatte sie den muffigen Essensgeruch von Hedwigs Gerstensuppe in der Nase. Ihr Blick fiel auf die Mittagstafel. Die Terrine stand offen neben dem Kerzenleuchter und war noch zur Hälfte gefüllt. Auch die Suppe in den Tellern war kaum angerührt. Dennoch wirkte der Tisch unordentlich. Das Tischtuch warf Falten, Brotkrümel lagen verstreut neben den Tellern, ebenso fand sich eine halbe Scheibe hellen Brots außerhalb des Korbs. Ein Weinglas war umgeworfen, der verschüttete goldgelbe Trank längst in das Leinen gezogen. Ein hässlicher Fleck kündete davon, weitere dunkle Flecken stammten wohl von der Suppe.
Erstaunt wanderte Carlottas Blick zu den Erwachsenen. Ihre Eltern und Tante Adelaide standen einige Schritt abseits vom Tisch. Von der Fensterfront fiel das schale, graue Licht des frühen Novembernachmittags auf die Gesichter. Starr sahen ihr die drei entgegen. Aus dieser Haltung sowie der unerträglichen Stille schloss Carlotta, dass sie gestritten und sich dabei hässliche Dinge an den Kopf geworfen haben mussten. Verbissen kniffen sie die Lippen zusammen und waren darauf bedacht, aneinander vorbeizusehen. Zum Glück hatte sie eine gute Nachricht zu überbringen. Das sorgte bestimmt wieder für bessere Laune.
»Ich soll euch alle herzlich von Doktor Petersen grüßen.« Sie lächelte in die Runde. »Er hat mir etwas mitgegeben, das euch alle gewiss sehr interessiert.«
Hinter ihrem Rücken zog sie ein kleines Päckchen hervor und streckte es dem Vater entgegen. Adelaide schoss nach vorn und wollte ihm zuvorkommen.
»Nicht, es ist für Vater«, erklärte Carlotta.
»Wie kommst du darauf?« Verärgert funkelte ihre Tante sie an, warf einen missbilligenden Blick auf das Päckchen und ging zum Fenster. Carlotta sah ihr nach und hoffte, sie nicht verprellt zu haben. Auf ihr Schweigen war sie angewiesen, wusste sie doch über ihr heimliches Tun mit der Wundersalbe Bescheid. Die Rezeptur hatte Doktor Petersen zwar leider noch nicht herausgefunden, dafür aber hatte er ihr mit diesem Päckchen einen ersten Lohn für die bisherigen Mühen überreicht.
»Wenn es eine neue Tinktur gegen Hühneraugen oder sonst eines seiner Wundermittel ist, verzichte ich gern. Mit seinem Theriak bin ich genug bedient. Jeden Tag fragt mich Diehl, ob ich brav davon nehme. Deine Mutter wird also sicherlich mehr mit Geschenken von Petersen anzufangen wissen als ich.« Eric rang sich ein Schmunzeln ab, klopfte ihr auf die Schulter und wollte die Stube verlassen.
»Das glaube ich nicht.« Flink stellte sie sich ihm in den Weg. »Schau lieber erst nach, was es ist, und entscheide dann, wer von euch mehr damit anfangen kann.« Auffordernd hielt sie es ihm hin. Er zögerte. Sie wurde ungeduldig und murmelte: »Bitte, Vater! Du wirst staunen.« Ihre blauen Augen wurden groß und rund, ihr Mund zog sich schmollend zusammen. Diesem Ausdruck konnte ihr Vater nie widerstehen.
»Also gut«, lenkte er ein und strich ihr über den rotblonden Lockenkopf. Zufrieden strahlte sie ihn an.
Behutsam nahm er das in braunes Papier eingeschlagene und mit einem groben Band versehene Päckchen in die Hand. Noch während er damit zum Tisch ging, begann er bereits, die Schnur zu lösen. Nachlässig warf er sie zu Boden und wickelte das Papier ab. Eine kleine Schachtel aus hellem Fichtenholz kam zum Vorschein. Er befreite sie vom restlichen Papier und hob sie hoch, um sie neugierig von allen Seiten zu betrachten. Dann schüttelte er sie sacht. Ein dumpfes Geräusch verriet, dass ein schwerer, kleiner Gegenstand darin liegen musste. Carlotta hielt den Atem an. Vorsicht!, wollte sie ihn mahnen. Angestrengt biss sie sich auf die Lippen, fuhr mit der Zunge darüber und schmeckte Blut.
Eric sah von einer Frau zur anderen. Dann stellte er das Kästchen auf den Tisch und betrachtete es abermals. Schmunzelnd rieb er sich die Hände.
»Mach endlich!« Ungeduldig knuffte Magdalena ihn in die Seite. »Sei mutig und stell dich dem Rätsel. Oder soll eine von uns Frauen den Part übernehmen? Du weißt ja, dass wir uns jederzeit furchtlos allen Herausforderungen des Lebens stellen.«
»Das könnte dir wohl so passen! Carlotta hat mir das Ding in die Hand gedrückt, also werde auch ich das darin verborgene Geheimnis lüften!« Noch einmal rieb er die Handflächen gegeneinander, dann beugte er sich über den Tisch. Unwillkürlich ahmten die beiden Frauen seine
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