Hexenheide
ermahnt er sich.
Er sieht das Dach von seinem Haus, genau wie es sein Vater gesagt hat. Und es ist gar nicht mehr so weit weg. Die kleinen Lampen im Garten sind schon an, er kann den schwachen Lichtschein erkennen.
Auf der anderen Seite der Straße sieht er noch ein Licht. Auch aus einem Garten? Nein, das kann doch gar nicht sein. Auf der Seite gibt es keinen Garten. Da stehen keine Häuser. »Gegenüber von unserem Haus ist doch gar nichts«, murmelt er vor sich hin. »Nur der Zaun und dahinter die Heide. Erst wieder ein ganzes Stück weiter, wo die van Siegmans wohnen, da ist wieder ein Garten. Aber ohne Lampen.« Doch es ist ein Licht, das er da sieht. Es hebt sich klein und gelb von der Heide ab. »Steht da jetzt ein Laternenpfahl?« Das Licht bewegt sich. Laternenpfähle bewegen sich nicht.
Karim fährt noch etwa einen Meter weiter. Er kriegt eine Gänsehaut auf den Armen, und die kommt nicht von der Kälte. Unter seinem dicken Schal spürt er den Schweiß im Nacken.
Ein Irrlicht. Wo hat er das denn schon wieder gelesen? Irrlichter, das war etwas, an das die Menschen früher geglaubt hatten. Irrlichter waren Elfen oder andere sonderbare Wesen, die die Menschen mit ihrem Schein ins Moor gelockt haben.
Und auch, wenn man nicht an solche Dinge glaubt, ist eine Lampe, die sich auf der stillen Heide bewegt, etwas sehr Unheimliches!
Aus einer plötzlichen Regung heraus springt Karim vom Rad und zieht es mit sich von der Straße weg. Hinter einem dunklen Strauch duckt er sich. Da läuft jemand. Mitten auf der Heide. Jemand mit einer Lampe …
»Ich warte einfach auf meinen Vater«, flüstert Karim leise. »Ich bleibe hier ganz still sitzen, und dann kommt mein Vater gleich hier entlang.« Eine halbe Stunde, hat sein Vater gesagt, eine halbe Stunde mindestens, um die Strecke nach Hause zu laufen. Wie lange dauert es dann noch, bis er hier ist?
Vielleicht ist es einfach ein Spaziergänger, der dort läuft. Ein einsamer Spaziergänger.
Aber wer geht denn um diese Uhrzeit noch auf der Heide spazieren? Noch jemand mit einer Reifenpanne? Aber da gibt es gar keinen Fahrradweg. Ist das vielleicht jemand, der sich verlaufen und nun den Weg ins Dorf wiedergefunden hat?
Karim überlegt. Wenn man tagsüber auf der Heide spazieren geht, nimmt man doch keine Lampe mit. Ist das jemand, der absichtlich bei Dunkelheit über die Heide gehen will? Das kann er sich nicht vorstellen. Nur wenn man etwas vorhat, das bei Tageslicht nicht möglich ist, geht man in der Dämmerung über die Heide. Aber dann nimmt man wahrscheinlich auch keine Lampe mit, sinniert Karim. Wenn man nicht gesehen werden will, läuft man nicht mit einer Taschenlampe herum. Also ist das wohl jemand, der es nicht schlimm findet, gesehen zu werden? Ja, also doch jemand, der ganz normal einen Abendspaziergang macht.
Karim will gerade erleichtert aufstehen, als ihm ein anderer Gedanke kommt.
Vielleicht ist das jemand, dem es nichts ausmacht, ob er gesehen wird oder nicht. Eine Person, die vor nichts Angst hat, weil sie weiß, dass sie selbst am meisten Angst verbreitet in der ganzen Gegend? Vielleicht doch eine Hexe?
Schnell hockt er sich wieder an den Straßenrand. Er fühlt sich beklommen, als bekäme er nicht genügend Sauerstoff. Er zieht sich den Schal aus dem Gesicht, doch der schlingt sich dabei noch enger um seinen Hals. »Chch!«, röchelt Karim, und mit beiden Händen streift er ihn ab.
Die Lampe bewegt sich nicht. Sie bleibt an Ort und Stelle. Vielleicht hat sie mich gehört , sagt ein ängstliches Stimmchen in Karims Kopf. Er versucht, sich mit dem Kopf zwischen den Knien ganz klein zu machen. Aber eigentlich ist das noch unheimlicher, denn so kann er nichts mehr sehen. Er setzt sich wieder aufrecht hin und späht mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit. Hin und her schaukelnd bewegt sich das Licht. Ist es nicht gerade größer geworden? Das heißt, dass es näher kommt! Das bedeutet, dass sie in meine Richtung kommt … sie kommt hierher … sie hat mich gehört … vielleicht sogar gesehen … Hexen können gut im Dunkeln sehen … sie haben Katzenaugen … sagt Lenne … Katzenaugen – das Wort wirbelt durch Karims Kopf. Am liebsten würde er schreien. Er kann hier nicht sitzen bleiben wie ein armer Tropf, der ergeben auf sein Schicksal wartet.
Er springt hinter dem Busch hervor und schnappt sich sein Rad. Zum Glück ist die Lampe schon eine ganze Weile kaputt, sein Vater hatte sie noch reparieren wollen. Aber gut, dass er es noch
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