Hexenheide
anspornend. Er spürt noch einen zweiten Schubs, auch wenn Erin mindestens zwei Meter von ihm entfernt ist. Karim fasst nach der Oberkante der Mauer und zieht sich hoch. Auf der Mauer sitzend, lässt er seinen Blick noch einmal über die Szenerie im Innenhof gleiten.
Alba und Erin haben sich Vitas angenommen und helfen ihr, mit bloßen Händen die Flammen zu ersticken.
Lenne fängt seinen Blick auf und nickt ihm zu.
Kann er Lenne denn hier zurücklassen, allein mit den drei Hexen? Karim kommt sich schrecklich feige vor. Vita wird Lenne hoffentlich nichts tun, ihn jedoch würde sie wahrscheinlich schrecklich gern durch die Mangel drehen. Ihm fällt nichts Besseres ein, als sich einfach nur in Sicherheit zu bringen, und so lässt er sich nach unten fallen. Zum Glück landet er auf einer weichen Schicht von Moos und Blättern, und doch spürt er einen scharfen Stich im Knöchel. Hoffentlich ist nichts gebrochen, denkt Karim, bitte nicht! Er rappelt sich auf und versucht zu rennen. Der Knöchel schmerzt ordentlich. Rennen geht nicht, doch mit schnellem Humpeln schafft es Karim, sich aus dem Staub zu machen.
Wenn er doch nur die Zauberkraft besitzen würde, mit der Alba sie hergebracht hat! Aber leider muss er ganz normal laufen. Und auf der Heide ist es dunkel und kalt. Karim kennt den Weg nicht, er war nur einmal vorher hier, und das war bei Tageslicht. Außerdem war er damals mit seinem Vater unterwegs und hat nicht daran gedacht, auf den Weg zu achten. Wer hätte auch ahnen können, dass er den Weg zurück jemals selbst finden müsste, noch dazu in einer pechschwarzen Nacht!
Mit Tränen in den Augen – vor Schmerz, vor Kälte und vor Angst – taumelt und stolpert Karim in der Wildnis von Baum zu Baum. Er versucht, die Richtung zu halten, denn er hat panische Angst, im Kreis zu laufen und wieder bei dem Hexenhaus zu landen.
Der Klang der wütenden Stimmen wird langsam leiser und leiser, und das sagt ihm, dass er sich zumindest von den Hexen entfernt. Nach einer Weile hört er gar nichts mehr. Es ist totenstill. Nur noch das Knacken von Zweigen unter seinen Füßen und das Rascheln der Blätter, durch die er läuft.
Hätte er beim letzten Mal, als er hier war, doch besser aufgepasst! Nun hat er keine Ahnung, wohin er geht.
»Einfach geradeaus, einfach nur geradeaus«, murmelt er vor sich hin. Der Schmerz in seinem Knöchel wird schlimmer. Es ist bestimmt nicht gut, damit weiterzulaufen. Doch ihm bleibt keine Wahl.
Dann hört er ein Schluchzen, und es dauert ein bisschen, bis ihm bewusst wird, dass das aus seiner eigenen Kehle kommt. »Ich weine nicht«, sagt er mit kleiner Stimme. »Ich weine überhaupt nicht.« Aber er macht sich nur selbst etwas vor, und nach ein paar mühsamen Schritten muss er sich eingestehen, dass er nicht weiterkann. Er ist müde, er hat Angst, und er hat Schmerzen. »Ich will nicht mehr.«
Dann sieht er etwas Dunkles, einen rechteckigen Schatten direkt vor sich. Ein Haus? Es brennt kein Licht. Eine Scheune? Vielleicht ist es der Schafstall des Schäfers!
Karim fasst ein kleines bisschen neuen Mut und humpelt weiter. Bis dahin wird er es wohl noch schaffen, in dem Gebäude könnte er unterkommen. Hoffentlich ist eine Tür offen! Gar nicht auszudenken, wenn alles verschlossen wäre.
Als er näher kommt, sieht er, dass es nur ein kleines Holzhäuschen ist, nicht der Schafstall, der war viel größer. Auf einem Bein hüpft Karim eilig darauf zu. Es kann doch nicht so schwer sein, die Tür zu finden. Nun sieht Karim Fenster, die das Mondlicht spiegeln. Eines davon steht einen Spalt offen!
Als Karim dann die Tür gefunden hat, stellt sich heraus, dass sie verschlossen ist. Davor hatte er Angst. Doch jetzt geht er zielbewusst zu dem offenen Fenster. »Und durch das komme ich rein!«, sagt er wild entschlossen. »Ich werde hier doch nicht den Rest der Nacht auf den Stufen sitzen, das kannst du vergessen.«
Es ist ein Schiebefenster, und nach einigem Rütteln und Stoßen kriegt Karim es weit genug auf, um hindurchzuklettern. Er zieht sich an der Fensterbank hoch, schlängelt sich durch die Öffnung und lässt sich dann einfach fallen. Unsanft landet er auf dem Holzboden.
»Geschafft!«, ruft er triumphierend, und seine Stimme überschlägt sich dabei. »Aber wo bin ich eigentlich?« Dann erinnert er sich an das Wildhüterhäuschen. Natürlich, das war es: das Häuschen, wo sich der Wildhüter ab und zu einen Kaffee kochen oder bei einem Unwetter Schutz finden kann. Es ist nur eine
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