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Hexenkind

Hexenkind

Titel: Hexenkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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was ist nichts Besonderes auf dem Land. In drei Monaten ist die kahle Stelle wieder zugewachsen und fertig. Edi kann auf jeden Fall nichts dafür, und du musst ihn nicht behandeln, als hätte er die Pest.«
    Aber Teresa irrte sich. Die kahle Stelle wuchs nicht zu, sondern vergrößerte sich zusehends. Und neue kahle Stellen kamen hinzu. Sarah war regelrecht hysterisch, befürchtete,
sich angesteckt zu haben, und zählte jeden Morgen die ausgefallenen Haare in ihrer Bürste.
    Der Dermatologe, zu dem sie Edi brachten, war ratlos. In so einem Fall, meinte er, könne man nur hoffen, aber keine Heilung versprechen. Dennoch verschrieb er Tropfen, die dreimal täglich in die kahlen Stellen einmassiert werden sollten. Sie stanken nach faulen Einern, färbten Edis weiße Kopfhaut graugrün und halfen überhaupt nicht. Nach vier Monaten war Edi kahl, hatte Augenbrauen und Wimpern verloren und sogar den zarten Flaum auf Armen und Beinen eingebüßt.
    Ein Spezialist in Siena war der fünfte Arzt, den Romano und Sarah konsultierten, und brachte es auf den Punkt: Alopecia universalis hieß die Krankheit. Edi hatte mit großer Wahrscheinlichkeit eine starke Allergie gegen die Kaninchenhaare entwickelt und damit sein Immunsystem zum Kollabieren gebracht, das jetzt vollkommen orientierungslos gegen die Haarwurzeln des gesamten Körpers kämpfte. Eine irregeleitete Abwehrreaktion, der die Haare zum Opfer fielen.
    »Wir werden das Kaninchen schlachten«, sagte Sarah sofort.
    Das würde aber nicht viel nützen, meinte der Arzt, mit oder ohne Kaninchen – das Immunsystem werde immer weiter gegen die Haarwurzeln vorgehen. Mit Cortison könne man es vielleicht ein bisschen bremsen oder die Abwehrreaktionen zum Stillstand bringen, aber ob Edis Haare jemals wieder nachwachsen würden, stünde in den Sternen. Wenn er Pech habe, bliebe er sein Leben lang haarlos.
    Und Pech wird er haben, dachte Romano resigniert, er
ist bereits als Pechvogel auf die Welt gekommen. Was einem Kind passieren kann, passiert ihm.
    Romano sollte recht behalten. Sie hofften zwei Jahre, und Sarah begutachtete nach dem Baden immer genau jeden Zentimeter seines Körpers, ob vielleicht irgendwo ein Haar spross und sei es nur aus einer Warze. Doch nichts geschah.
    Edi schwemmte durch das Cortison lediglich ungeheuer auf und sah aus wie eine Brühwurst, der man die Pelle abgezogen hat.
     
    »Das ist heftig«, meinte er. »Erst Edi – und dann deine Mutter … Mein lieber Scholli. Dabei kommst du mir eigentlich ziemlich normal vor.«
    »Ich kümmere mich viel um Edi. Das hilft.«
    Sie sah aus dem Fenster hinaus in die Nacht. In den meisten Häusern brannte kein Licht mehr. Nur selten fuhr noch ein Auto durch die stille Straße. Sie hatte Sehnsucht nach ihm, aber sie schwieg.
    Nach einer Weile meinte er zögerlich: »Tja, dann … vielen Dank für das Abendessen, es war wirklich klasse. Ich werde dich jetzt wieder allein lassen und nach Hause gehen.«
    »Bitte nicht«, sagte Elsa schließlich mutig und sah ihn mit ihren dunklen Augen so durchdringend an, dass ihm heiß wurde. »Bitte bleib«, wiederholte sie. Ihr Tonfall war deutlich. Sie hätte auch sagen können: Zieh mich aus.
    Und er verstand.

61
    Er blieb nicht nur die ganze Nacht, sondern jede Nacht in den nächsten zwei Wochen. Seinen Rückflug nach Deutschland hatte er gecancelt. Wenn Elsa in der Uni war, ging er in Tims Wohnung, spielte auf dem Flügel, komponierte und trank, bis er einen Level des Betrunkenseins erreicht hatte, der es ihm erlaubte, sich beim Abendessen etwas zurückzuhalten.
    Elsa roch zwar die Fahne, wenn sie ihn abends traf, aber sie dachte sich nichts dabei. In Italien war es normal, zu Mittag ein Glas Wein zu trinken. Dass er mindestens drei Flaschen am Tag trank, merkte sie nicht.
    Aber auch sein Drogenvorrat ging zur Neige. Er wusste, dass er über kurz oder lang nach Hause musste. In Siena, Florenz oder Arezzo kannte er keine Adresse, wo er Marihuana oder Kokain kaufen konnte.
    Elsa liebte ihn. Sie liebte ihn mit ihrer ganzen verwundeten Seele, die jeden Tag ein bisschen mehr verheilte. Sie genoss seine Zärtlichkeiten und fühlte sich zum ersten Mal nicht allein. Anna hatte angerufen und gesagt, sie würde erst nach Weihnachten wiederkommen, so waren sie in der Wohnung allein, ein paradiesischer Zustand.
    Nach einer Woche erzählte sie Romano, dass sie sich verliebt
hatte. »Er ist ein Musiker, ein Künstler, er arbeitet beim Film. Gut, er ist ein bisschen älter als ich, aber das macht

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