Hexenkind
Gabriella hatte beim Frühstück missmutig in ihrem Milchkaffee herumgerührt und verkündet, sie werde den Vormittag beim Friseur verbringen. Ihre Haare bräuchten dringend einen neuen Schnitt und eine frische Tönung. Allmählich sehe sie aus wie eine Vogelscheuche, die im Weinberg drei Tage im Regen gestanden hätte. Neri fand das zwar überhaupt nicht, aber er sagte nichts dazu und war ins Büro gefahren, ohne zu wissen, was er da überhaupt sollte.
Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er alle Männer zwischen fünfzehn und fünfundachtzig im Valdarno zum DNA-Test antanzen lassen, aber nach ihm ging es ja leider nicht, und das machte ihn wütend. Wenn ihm nicht ewig diese dussligen, behindernden Gesetze im Weg stünden, hätte er den Mörder längst gefasst. Davon war er überzeugt.
Umso frustrierter machte ihn seine Hilflosigkeit, und wenn er an Romano dachte, bekam er ein flaues Gefühl in der Magengegend. Er hatte immer noch nichts Konkretes gegen ihn in der Hand. Und sein Bild von dem möglichen Mörder war so grau und neblig wie dieser Novembermorgen, bis ihn Alessios Anruf erreichte, und sich Donato Neri bereits ausmalte, dass er im gesamten Valdarno ein gemachter und geachteter Mann wäre, wenn er den Mörder doch noch überführen könnte. Nicht nur, dass alle Zeitungen über ihn berichten würden, nein, er würde auch befördert werden und könnte vielleicht endlich nach Rom zurückkehren. Etwas Großartigeres konnte sich Neri überhaupt nicht vorstellen.
Zwei Stunden später erschien Alessio auf dem Revier, um die wenigen Sätze, die er bereits am Telefon gesagt hatte, zu wiederholen und seine Aussage zu unterschreiben.
Neri bat ihn noch – obwohl er keinerlei Verdachtsmomente gegen Alessio hegte – um eine Speichelprobe, und Alessio ließ sich bereitwillig mit dem Wattestäbchen im Mund herumwischen. Er hatte ein reines Gewissen.
Neri verabschiedete Alessio überschwänglich herzlich und sah auf die Uhr, als Alessio die Tür hinter sich geschlossen hatte. Es war zwanzig nach zwölf. Wenn er jetzt losfuhr, war er genau zur Mittagszeit bei Marcello Vannozzi.
Mit großer Wahrscheinlichkeit konnte er mit einem Schlag die ganze Familie mit der Neuigkeit konfrontieren.
Er rief Gabriella an und sagte ihr, dass er zum Mittagessen heute nicht kommen könne, er habe einen äußerst wichtigen Termin. Bevor sie weiter fragen konnte, legte er auf. Er liebte es, sich durch kleine Heimlichkeiten bei seiner Frau wichtig zu machen, denn er wusste, dass sie jetzt den ganzen Tag überlegen würde, was für ein wichtiger Termin das sein könnte, und vor allem würde sie seine Heimkehr voller Ungeduld erwarten.
Als er sich ins Auto setzte, wurde der Regen stärker.
77
Als Marcello am vergangenen Abend nach Hause kam, hatte er fünf lachsfarbene Gerbera in der Hand, Pias Lieblingsblumen. Er sah die Freude in ihren Augen, aber auch die Angst, dass er irgendetwas wieder gutmachen wollte, von dem sie noch nicht wusste, was es war. So war sie sehr verhalten und abwartend, als er sie in den Arm nahm.
»Es tut mir so leid«, sagte er. »Ich weiß, dass ich zur Zeit irgendwie komisch bin, überarbeitet vielleicht, oder mit meinem Blutdruck stimmt etwas nicht. Ich werde der Sache auf den Grund gehen, das verspreche ich dir, aber eins musst du wissen, es hat nichts mit dir oder mit uns zu tun.«
Marcello war nicht der Mann der großen Worte, Liebesgeständnisse waren nicht seine Sache und Entschuldigungen erst recht nicht. Insofern fand sie diesen unbeholfenen Erklärungsversuch sehr rührend und küsste ihn dankbar.
Zum Abendbrot briet sie ihm Auberginenscheiben in Öl mit Knoblauch und ließ sie danach noch kurz im Ofen mit Parmesan überbacken. Sie mochte dieses Essen überhaupt nicht, weil die Auberginen vor Fett nur so trieften, allein zum Braten verbrauchte sie einen viertel Liter Olivenöl,
aber Marcello liebte es. Und bei seiner Figur konnte er sich Kalorienbomben dieser Art ohne Bedenken leisten, seine Statur war nicht mehr als schlank, sondern schon als dünn oder dürr zu bezeichnen.
Zu diesem persönlichen Festmahl öffnete Marcello noch eine Flasche erlesenen Rotwein, die er nur für besondere Anlässe in der Cantina aufbewahrte, und rückte mit seiner zweiten Überraschung an diesem Abend heraus. Drei Tage Venedig in der kommenden Woche. Er hatte ein einfaches, aber sehr zentral gelegenes Hotel gebucht und Opernkarten für Puccinis »La Bohème« besorgt, seiner Lieblingsoper, in der der Maler Marcel
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