Hexenkind
ihm nicht nur Namensvetter war, sondern dem er sich auch seelenverwandt fühlte.
In den vierundzwanzig Jahren ihrer Ehe hatte sich Marcello noch nie so verhalten. Überraschungen und kleine Geschenke kamen ihm so gut wie nie in den Sinn, sogar mit Geburtstagen tat er sich schwer und stand oft – vollkommen zerknirscht – mit leeren Händen da, weil ihm absolut nichts eingefallen war. Sie war ihm nie böse gewesen, hatte es immer akzeptiert, dass er ein Mann war, der Überraschungen nicht ausstehen konnte, keine Geschenke erwartete und selber auch keine machen konnte.
Und dann so ein Abend des Überschwangs. Mehr hätte sie auch zu ihrer Silberhochzeit im kommenden Jahr nicht erwartet.
Pia war schwer irritiert, aber sie wollte Marcello nicht verletzen und sagte nichts.
Gegen dreiundzwanzig Uhr kam Gina nach Hause, verkündete, dass sie müde sei und keinen Hunger habe, und verschwand in ihrem Zimmer. Maria war noch nicht da,
aber Marcello und Pia waren daran gewöhnt, dass sie mehrmals in der Woche bei ihrem Freund in Civitella übernachtete, und machten sich in gewohnter Weise für die Nacht zurecht. Marcello ließ den Hund noch einmal vor die Tür und löschte danach alle Außenlichter, Pia stellte in der Küche Geschirr in die Spülmaschine und nahm für den nächsten Tag Fisch aus dem Gefrierschrank.
Sie trafen sich danach meist im Badezimmer, wo sie sich schweigend nebeneinander die Zähne putzten.
»Der alte Bernardo liegt im Sterben, wusstest du das?«, fragte Pia, während sie sich den Mund spülte. Marcello nickte ihr im Spiegel zu. »Langsam wird es Zeit. Seit Wochen wartet jeder jeden Tag darauf, dass er endlich die Augen zumacht.«
Wie kannst du nur so denken, dachte Pia, wie hart du bist, du kannst ja gar nicht wissen, ob der alte Bernardo nicht am Leben hängt und dem Herrgott für jeden Tag dankt, an dem er noch lebendig ist. Aber wieder sagte sie nichts.
In dieser Nacht war Marcello so zärtlich wie schon seit Monaten nicht mehr. Pia versuchte zu erfühlen, ob seine Hand anders war als sonst, ob seine Berührungen sich verändert hatten, vielleicht, weil er eine andere Frau angefasst und somit ein anderes Verhältnis zu ihrem Körper bekommen hatte … Das, was er ihr nicht sagte, versuchte sie zu spüren, aber es gelang ihr nicht. Je mehr sie sich jedoch in ihre Befürchtungen und Vermutungen hineindachte, umso mehr wurde seine Hand eine fremde für sie, und sie ertappte sich dabei, dass sie es aufregend fand.
Pia war eine glückliche Frau, als sie am nächsten Morgen erwachte.
Marcello fuhr nur kurz zu einem Klienten nach Montevarchi, erledigte hinterher noch einige Arbeiten im Büro und war pünktlich zum Mittagessen zu Hause. Maria hatte angerufen, dass sie erst am Nachmittag ins Büro kommen werde, und Gina erledigte Einkäufe in Siena und lehnte es aus diättechnischen Gründen ab, zum Mittagessen nach Hause zu kommen.
So waren Pia und Marcello allein und aßen Forelle in Weißweinsoße, als Donato Neri vor der Tür stand und sich für sein Stören während des Essens entschuldigte. Auch der Unsensibelste sah ihm an, dass er es nicht ernst meinte, Pia war wütend und Marcello weiß wie die Wand. Jetzt, wo die Polizei in seinem Haus war, brachte er keinen Bissen mehr hinunter. Er schob seinen noch immer gefüllten Teller zur Seite und erwartete seine öffentliche Hinrichtung.
»Es dauert sicher nicht lange«, begann Donato Neri. »Aber können wir uns vielleicht irgendwo ungestört allein unterhalten?«, fragte er Marcello mit einem angedeuteten Seitenblick zu Pia.
»Sagen Sie, was Sie wollen und warum Sie hier sind. Ich habe keine Geheimnisse vor meiner Frau.« Während er den Satz aussprach wusste Marcello, dass es der verlogenste und der schwerste Satz seines Lebens gewesen war. Er hatte sich selbst ans Messer geliefert. Niemals hätte er ihr erklären können, warum er sie aussperrte, wenn der Commissario eine belanglose Frage stellte, wo er doch gar nichts zu befürchten hatte. Und eines konnte man von Pia behaupten: Sie war die Neugier in Person.
»Wie schön«, sagte Neri.
»Bitte setzen Sie sich doch.« Pia schob die halb gefüllten
Teller zusammen und überlegte dabei, wie sie das alles wieder warm machen könne und ob Marcello in einer halben Stunde auf ihre liebe- und mühevoll zubereitete Forelle überhaupt noch Appetit haben würde.
»Ich habe nur eine Frage«, begann Neri ruhig. »Ich würde gern wissen, wo Sie am Morgen des 21. Oktober, es war ein Freitag,
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