Hexenkind
ihren Sohn sah. Sein Gesicht war völlig verquollen, die Augenlider blutunterlaufen, das Nasenbein gebrochen, Augenbraue und Wange mit mehreren Stichen genäht. Außerdem trug er um den Oberkörper einen elastischen Verband, eine Rippe war gebrochen.
»Madonna mia, was ist denn mit dir passiert?«
»Meine Zellengenossen haben offensichtlich schlecht geträumt.«
»Hattet ihr Streit?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Aber so ohne Grund schlägt man doch nicht jemanden zusammen?« Teresa rang die Hände zum Himmel.
»Ich bin hier nicht zur Kur, Mama.«
Teresa schwieg. Sie konnte seinen Zynismus ja verstehen, aber schlecht damit umgehen.
»Erzähl mir lieber, was zu Hause los ist. Wie geht es euch? Und Edi? Und Elsa?«
»Es ist schlimm, Romano. Gestern war die Dottoressa da, weil Enzo kaum noch ansprechbar ist. Er redet mit niemandem und weint die ganze Zeit. Jetzt hat er Tabletten bekommen. Wenn es nicht besser wird, muss er in die Klinik, sagt die Dottoressa. Was glaubst du, wie schwer das für mich ist. Ein kranker, depressiver Mann, dann Edi und Elsa … na ja, und mir selbst geht es ja auch nicht so besonders.«
»Das glaube ich dir.«
»Schließlich haben wir sie alle geliebt. Nicht nur du.«
»Ich weiß.«
»Sie war mir ans Herz gewachsen wie eine eigene Tochter.«
»Ja, Mama.«
»Wenn du es nicht warst, wer war es denn dann, Romano?«
»Ich habe keine Ahnung, Mama. Nicht die geringste. – Und? Was macht die Polizei?«
»Der Commissario schleicht jeden Tag durchs Dorf und redet mit den Leuten. Aber er beißt auf Granit, meint die Bäckersfrau. Keiner sagt ihm was, weil er ein pallone gonfiato, ein arroganter Schnösel, ist, der sich für was Besseres hält.«
»Blödsinn. Es sagt ihm keiner was, weil keiner was weiß.«
»Wenn du dich da mal nicht täuschst. Roberta hat mir erzählt, dass Sarah ihrem Sohn Rico schöne Augen gemacht hat.«
»Sei still, Mama. Ich will nichts von diesem Gerede hören.«
»Ich meine ja nur. Und sie hat ihm nicht nur schöne Augen gemacht, sagt Roberta. Noch viel mehr. Sie hat ihm völlig den Kopf verdreht, dem armen Jungen.«
»Halt den Mund!«, zischte Romano so laut, dass Teresa regelrecht zusammenzuckte.
Teresa schwieg beleidigt.
»Was kann ich denn um Gottes willen für dich tun?«, fragte sie schließlich nach einer längeren Pause.
»Gar nichts. Bete für mich, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Kümmere dich nicht um die Gerüchte und erspare dir jeglichen Kommentar, Mama, hörst du? Gib keine Antworten. Sei einfach still, wenn dich jemand was fragt, und höre gar nicht hin, wenn dir jemand was sagt. Versprichst du mir, dich aus allem rauszuhalten?«
»Na, aber!« Teresa war empört. »Was denkst du denn von mir? Von mir erfährt keiner was. Von mir hat noch nie jemand was erfahren.«
»Dann ist es ja gut.« Romano seufzte. »Wie geht es Edi?«
»Gut. Also, sagen wir mal, es ist ihm nichts anzumerken. Elsa hat ihm einen neuen Tiger besorgt, weil das alte Kaninchen gestorben ist. Keine Ahnung woran. Vielleicht hatte es Herzprobleme.«
Romano dachte daran, wie er Sarah im Sommer den kleinen Hund mitgebracht hatte. Ein weißes Wollknäuel mit großen Knopfaugen, gerade mal zwei Monate alt. Sie nannte ihn Caro, und er war ihr Ein und Alles. Als hätte sie völlig die Welt vergessen, drehte sich alles nur noch um den Hund. Er folgte ihr auf Schritt und Tritt, saß ständig auf ihrem Schoß und schlief bei ihnen im Bett, was Romano schrecklich fand. Aber er konnte nichts dagegen tun, Caro hatte sich bereits daran gewöhnt.
Sie fütterte ihn bei jeder Mahlzeit unter dem Tisch und brachte ihm »Männchen machen« und »Pfötchen geben« bei. Caro setzte sich brav bei »Sitz« und ließ sich bei »Platz« augenblicklich platt auf den Boden fallen, wenn sie die Worte nur flüsterte. Sarah war vollkommen begeistert über seine schnelle Auffassungsgabe und seinen unbedingten Gehorsam. Ihre ganze Liebe konzentrierte sich auf diesen kleinen weißen Terrier, den sie hin und wieder »mein vierbeiniges Söhnchen« nannte. Inwieweit Edi diese Worte verstand, konnte Romano nicht beurteilen. Aber oft hatte er den Eindruck, dass Edi den Hund akzeptierte. So wie er Tiger hatte, hatte seine Mutter eben Caro. So wie er Tiger unter den Pullover stopfte und überall mit hinnahm, trug Sarah ihren Caro fast ständig auf dem Arm oder zog ihn an der Leine hinter sich her.
Romano hätte nie gedacht, wie sehr dieses Geschenk, diese kleine Freude, die er ihr mit dem Tier
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