Hexenkind
Piazza zwei Grappa getrunken. Es können auch mehr gewesen sein, ich weiß es nicht mehr. Dann bin ich nach Hause gefahren.«
»… und haben so getan, als wäre nichts gewesen.«
Marcello nickte. »Aber meine Frau und meine Töchter wussten schon von dem Mord. Ich täuschte eine Übelkeit vor und legte mich ins Bett, um meine Gedanken zu sortieren.«
»Das ist ja wohl das Letzte«, hauchte Pia. Sie war völlig fassungslos.
»Könnte es nicht sein, dass Sie die Signora umgebracht haben und dann so schnell wie möglich verschwunden sind? Die wenigsten Mörder zeigen ihre eigene Tat an.«
»Warum sollte ich sie umbringen? Sie war meine Kundin, und sie hat mir nichts getan.«
»Kannten Sie sie gut?«
»Ein wenig. So wie man halt Klienten kennt. Man weiß, wo und wie sie wohnen, man kennt ihren Familienstand und ihren Beruf. Mehr nicht.«
»Dann verstehe ich Ihr Verhalten nicht.«
»Ich verstehe es selbst auch nicht.«
»Und ich erst recht nicht«, murmelte Pia.
»Ich muss Sie bitten, mit aufs Revier nach Montevarchi zu kommen«, sagte Neri, während er aufstand. »Wir brauchen Ihre DNA und nehmen Ihre Aussage zu Protokoll.«
Marcello nickte schweigend und ging zur Tür. »Ich bin hoffentlich bald zurück«, sagte er zu Pia und verließ zusammen mit Neri die Küche.
Er schleicht davon wie ein Verbrecher, dachte Pia und spürte, dass in diesem Moment ihr Leben dabei war, sich grundlegend zu verändern. Marcello steckte bis zum Hals in einer Geschichte, die sie noch nicht kannte. Und zum ersten Mal in ihrem Leben fürchtete sich Pia Vannozzi vor der Zukunft.
78
Marcello kam gegen acht. Er roch nach Grappa und bewegte sich betont langsam, als habe er Angst, bei einer schnellen Bewegung Kontrolle und Gleichgewicht zu verlieren und lang hinzuschlagen. Pia, die am Fenster saß und für ihre Mutter zu Weihnachten eine Weihnachtsdecke stickte, registrierte es sofort, sagte aber nichts und benahm sich so, als würde sie nichts bemerken.
»Erzähl«, sagte sie, als Marcello sich gesetzt und ein Glas Wasser eingeschenkt hatte. »Was war los, was haben sie mit dir gemacht?«
»Nichts«, sagte er mürrisch. »Sie haben eine Speichelprobe genommen. Das war alles.«
»Und warum warst du dann sieben Stunden weg?«
»Ich war noch bei Giorgio, einen Kaffee trinken.«
Pia nickte. »Verstehe. So was dauert. Haben sie dich noch irgendwas gefragt?«
»Nein. Nichts. Dieser Neri war auch gar nicht mehr dabei.«
Marcello legte den Kopf in seine Hände und sackte in sich zusammen. Pia, die schräg hinter ihm saß, sah, dass sein Körper seltsam zuckte. Es sah aus, als würde er weinen, aber als sie zu ihm ging, sein Gesicht in ihre Hände nahm und ihn ansah, waren seine Augen trocken.
»Marcello«, sagte sie und kraulte seinen Nacken. »Mach mir doch nichts vor. Hör auf mit dem Theater. Bisher konnte uns beide weder Tod noch Teufel schrecken, immer hat einer den anderen aufgerichtet. Und jetzt benimmst du dich, als wäre die Welt über dir zusammengebrochen, und ich weiß nicht warum. Sag mir, was los ist. Bitte! Ich bin sicher, dann geht es dir besser. Vielleicht kann ich dir helfen, vielleicht weiß ich einen Rat, es wäre ja nicht das erste Mal. Auf alle Fälle halte ich zu dir, das weißt du, egal was geschehen ist.«
Marcello sah sie mit großen glasigen Augen an und antwortete nicht. Aber sie spürte, dass er kurz vor dem Zusammenbruch stand, und machte behutsam weiter.
»Erzähl mir von der Signora«, sagte sie sanft. »Was war zwischen dir und ihr, denn dass da etwas war, sehe ich dir an der Nasenspitze an.«
Marcello schwieg. Er kämpfte mit sich und war schlagartig nüchtern. Jetzt war wieder eine Gelegenheit. Pia war sanft, mitfühlend, verständnisvoll. Es war nicht viel. Ein Wort, ein Satz, und es wäre heraus. Er hätte es von der Seele. Wahrscheinlich war jede Konsequenz leichter zu ertragen als diese Schuld, die er nun seit Jahren mit sich herumschleppte. Er glaubte, mit Pias Tränen und Vorwürfen, mit ihrer Wut und Verzweiflung besser umgehen zu können als mit dieser Heimlichkeit, die wie ein Mühlstein auf seiner Seele lag, der ihn langsam aber sicher immer tiefer nach unten zog. Wenige Sekunden – und es wäre passiert. Der Mut, den Mund aufzumachen und das erste Wort zu sagen, das zwangsläufig alle anderen nach sich ziehen würde, war wie ein Sprung ins eiskalte Wasser. Abspringen, sich fallen lassen, und dann gab es kein Zurück mehr. Marcello
versuchte, in Bruchteilen von Sekunden darüber
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