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Hexenkind

Hexenkind

Titel: Hexenkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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wenigsten Auskunft geben konnte. Er wusste noch nicht einmal mehr die Farbe des Morgenmantels, und den Stoff konnte er erst recht nicht beschreiben. Frottee, Baumwolle oder Seide
machten für ihn keinen Unterschied. Lediglich die Blutlache hatte sich in sein Hirn eingebrannt und überlagerte alle anderen Eindrücke.
    Nichts von alledem, was ihr Mann eher widerwillig herausrückte, konnte Berta für sich behalten. Seit dem Mord ging sie täglich zum Einkaufen und machte sich vor Nachbarn, Bekannten und Verwandten wichtig. Sie verbrachte Stunden im Dorf und hielt die Gerüchteküche am Kochen.
    Es dauerte über eine Woche, bis Alessio eine Kleinigkeit einfiel, der er bisher keine Bedeutung zugemessen hatte. Er erzählte es eigentlich nur, um seine Frau zufriedenzustellen, die wegen der rarer werdenden Informationen immer enttäuschter wurde und sich davor fürchtete, wieder in die Eintönigkeit ihres Alltags zurückzufallen, in dem man sich weder zu Hause etwas zu sagen noch im Dorf etwas Interessantes zu berichten hatte.
    Alessio erinnerte sich, dass er den Versicherungsagenten Marcello Vannozzi gesehen hatte, als dieser aus der Richtung des Hauses der Signora kam und sich eilig entfernte. Alessio wollte ihm noch eine Begrüßung zurufen, aber er unterließ es, denn dazu war Marcello zu weit entfernt, und Alessio wollte jagen und die Tiere nicht durch seine laute Stimme verscheuchen. Es war durchaus nichts Besonderes, frühmorgens einem anderen Jäger oder einem Pilzesammler zu begegnen, aber da er wusste, was im Haus der »strega« passiert war, konnte es durchaus eine Bedeutung haben.
    Berta wurde leichenblass, als er ihr seine Beobachtung so unaufgeregt wie möglich mitteilte, als hielte er sie für völlig belanglos. Er sah, dass sie einige Atemzüge aussetzte, bevor sie knallrot anlief.

    »Und das sagst du mir erst jetzt?«, kiekste sie. »Alessio, bist du dir darüber im Klaren, dass du eventuell den Mörder gesehen hast?«
    »Sei nicht albern, Berta«, meinte Alessio und lächelte gnädig, als wolle er ihr diesen absurden Gedanken verzeihen. »Ich habe Marcello Vannozzi gesehen, cara, und kein Monster mit einem blutigen Messer in der Hand. Marcello hat Pilze gesammelt, mehr nicht. So wie er jede Woche Pilze sammelt. Wahrscheinlich ist er in der Gegend herumgelaufen, ohne die geringste Ahnung, dass die Signora ermordet worden ist.«
    »Wahrscheinlich, wahrscheinlich, wahrscheinlich … auch du kannst keinem in den Kopf gucken, Alessio. Und niemand hat auf der Stirn zu stehen: Achtung, ich bin ein Mörder!«
    Alessio fand dieses Gespräch beinah komisch. »Du kennst Marcello Vannozzi genauso gut wie ich. Er tut keiner Fliege was. Und wenn er aus Versehen einen Käfer zertritt, kann er drei Nächte lang nicht schlafen und bittet den Käfer und den Herrgott um Verzeihung. Ich habe eine Frau gesehen, die abgeschlachtet worden ist, meine Liebe, dieses Bild werde ich mein Lebtag nicht vergessen, aber wenn Marcello das gesehen hätte, wäre er bis ans Ende seiner Tage in psychologischer Behandlung.«
    »Geh zur Polizei«, sagte Berta stur. »Es ist deine verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Schon wegen der armen Signora Simonetti.«
    »Du konntest sie doch noch nie leiden.«
    »Das tut nichts zur Sache, aber ich bin immer auf der Seite der Gerechtigkeit. So einen Tod hat keiner verdient. Geh zur Polizei.«

    »Warum soll ich den armen Marcello in Schwierigkeiten bringen?«
    »Wenn er nichts getan hat, bekommt er auch keine Schwierigkeiten.«
    Alessio seufzte. Er wusste, dass Berta erst Ruhe geben würde, wenn er seine Beobachtung der Polizei mitgeteilt hatte, und verfluchte sich insgeheim, Berta gegenüber den Mund aufgemacht zu haben.
    Er verbrachte eine schlaflose Nacht und rief schweren Herzens am nächsten Morgen Kommissar Neri an, um die Sache endlich hinter sich zu bringen. Er wollte seine Ruhe haben, wollte nichts mehr hören von Mord und Totschlag und sich mit seiner Frau wieder über seine geliebte toskanische Brotsuppe Ribollita, die bevorstehende Olivenernte und eine verunglückte Predigt des Pfarrers unterhalten und nicht mehr über die Leiche der Signora, die eine Puttana, eine Hure, gewesen war und wahrscheinlich einfach nur bekommen hatte, was sie verdiente.
    Neri wurde ganz kribbelig, als er hörte, was Alessio ihm in knappen Worten am Telefon erzählte. Was war denn heute für ein Tag? Donnerstag, der dritte November. Der Himmel grau verhangen, Nieselregen. Jetzt war der Sommer endgültig vorbei.

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