Hexenkind
mehr vertrauen, Marcello! Und wie soll man jemanden lieben, dem man nicht mehr vertraut?«
»Pia, bitte! Versteh mich doch! Hör mir doch zu!« Marcello verspürte eine aufkommende Panik. »Es war ein einmaliger Ausrutscher, Pia, den ich bitter bereut habe! Es wird nie, nie, nie wieder vorkommen! Das verspreche ich dir! Nie wieder!«
Pia zuckte nur die Achseln. »Lass es, Marcello, vergiss es, gib dir keine Mühe.«
»Kannst du mir denn nicht verzeihen?«
»Vielleicht, ich weiß es nicht.«
»Was weißt du denn?«
»Dass ich Mitleid mit dir habe. Großes sogar.«
Dann ging sie ohne ein weiteres Wort aus der Küche.
Marcello holte sein Bettzeug aus dem Schlafzimmer und schlief von nun an im Wohnzimmer auf der Couch. Ihre Arbeit im Haushalt stellte Pia vollkommen ein. Sie lebte wie ein Single, kochte nicht mehr, wusch keine Wäsche mehr, räumte nicht auf und machte nicht sauber. Morgens stand sie auf, legte ordentlich und akkurat ihr Bettzeug zusammen, ging unter die Dusche, frisierte und schminkte sich sorgfältig und ging aus dem Haus. Wohin sie ging, wusste keiner. Weder Marcello noch ihre Töchter. Spät abends kam sie wieder. Meist erst dann, wenn sie sicher sein konnte, dass niemand mehr wach war. In der Küche trank sie manchmal noch ein Glas Wasser oder einen Tee und ging ins Bett.
Es gab auch Tage, an denen sie das Haus nicht verließ. Dann saß sie im Schlafzimmer am Fenster, nähte oder las und bat, in Ruhe gelassen zu werden, wenn jemand ins Zimmer kam. Marcello und seine Töchter respektierten das und hielten sich fast nur noch in der Küche auf.
Gina und Maria waren verstört und irritiert und taten im Haushalt das Nötigste. Sie hatten keine Ahnung, was passiert war, weder Vater noch Mutter gaben eine Erklärung ab.
Im Haus der Vannozzis herrschte Grabesstille. Man fror,
wenn man durch die Räume ging. Marcello war unglücklich, aber er gab die Hoffnung nicht auf, dass Pia irgendwann ihr Schweigen brechen und zu einem normalen Leben zurückkehren würde.
In diesen Tagen sagte sie nur einen einzigen Satz zu ihm. »Lass mir Zeit.« Mehr nicht.
79
Zwei Tage später – die Trattoria war seit Romanos Verhaftung geschlossen – rief Teresa bei Elsa in Siena an, was sie noch nie getan hatte. »Bitte komm her, ich glaube Enzo verliert den Verstand. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.«
Elsa fuhr sofort los.
Seit Sarahs Tod saß Enzo nun in seinem Zimmer am Fenster, starrte auf die Straße und wartete. Aber Sarah kam nicht über die Piazza und winkte ihm auch nicht zu.
Enzos Augäpfel zuckten unentwegt aufgeregt hin und her, als beobachteten sie einen Schmetterling, der vor der Fensterscheibe flatterte. Dabei lächelte er ständig und aß nur an diesem Platz, wenn man ihm seinen Teller auf den Schoß stellte. Mechanisch löffelte er Nudeln, Reis, Fleisch oder Gemüse in winzigen Bissen in sich hinein, ohne irgendetwas zu schmecken.
Und egal, was Elsa oder Teresa ihn fragten, er antwortete immer gleich: »Ich bin ein Junge aus Umbrien«, sagte er. »Meine Eltern sind einfache Schafhirten. Im April ziehen wir durch die Wiesen und Felder bis zum Meer, und im November kehren wir nach Hause zurück. Dort werden die Lämmer geboren und einige Schafe geschlachtet. Mein Vater trifft die Stelle genau, er sticht zu, und dann schießt das
Blut in den Eimer. Ich rühre es mit der Hand und lecke die Finger ab. Es ist köstlich. Ich bin ein Junge aus Umbrien, und wenn in der Nacht die Wölfe in den Bergen und in den Wäldern heulen, fürchte ich mich.«
Immer wieder die gleiche Geschichte.
Elsa strich ihm übers Haar. »Es ist gut, Enzo. Hast du Durst? Möchtest du was trinken? Was soll ich dir bringen? Einen Kaffee?«
»Ich bin ein Junge aus Umbrien«, erwiderte Enzo anstelle einer Antwort.
»Ich kann nicht mehr, Elsa«, schluchzte Teresa in der Küche. »Jetzt ist Enzo auch nicht mehr bei sich, ich habe nicht Kraft für alle, für die ganze Familie, die nur noch ein Scherbenhaufen ist. Das lässt sich alles nicht mehr kitten.«
»Red doch nicht so was«, murmelte Elsa. »Enzo kommt schon wieder zu sich. Aber er braucht Zeit.«
»Wir fallen, Elsa, und bald kommt der Aufschlag. Ho paura, Elsa, ich hab solche Angst.«
»Du brauchst keine Angst mehr zu haben«, meinte Elsa kühl. »Es ist schon alles passiert, was passieren kann. Mehr kommt nicht.«
Damit ging sie aus der Küche, um sich um Edi zu kümmern, und ließ Teresa mit ihrem Rosenkranz allein.
80
Ein dickes Hoch lag über
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