Hexenkind
nachzudenken, ob er ein Zurück überhaupt wollte oder nicht. Sein Verstand arbeitete fieberhaft, aber seine Gedanken flogen hin und her, er war nicht in der Lage, sie zu sortieren, er wusste gar nichts mehr.
Pia saß vor ihm und legte ihre kleine warme Hand auf seine. Für einen Augenblick wurde ihm schwindlig, und dann sagte er: »Ja, da war was.« Mehr nicht. Nur diese vier Worte, und es war heraus. Nun war nichts mehr rückgängig zu machen, nun begann ein neues Kapitel seines Lebens, mit oder ohne Pia. Die Entscheidung darüber lag nicht mehr in seiner Macht.
Marcello fühlte sich stolz und elend zugleich und wagte immer noch nicht, Pia in die Augen zu sehen.
Die Stille in der kleinen, glanzlosen und neonbeleuchteten Küche der Vannozzis war unerträglich. Es dauerte nur Sekunden, aber für Marcello zogen sie sich wie endlose Minuten.
»Was war?«, fragte Pia leise. »Bitte erzähl’s mir, sonst werde ich verrückt. Die Wahrheit kann niemals so schlimm sein wie meine Phantasie.«
»Sie bat mich zu kommen, weil sie ihr Haus versichern wollte«, begann Marcello leise und unendlich langsam. Dabei presste er seine Fingerspitzen auf die Tischplatte, bis sie weiß waren. »Ich sollte es mir ansehen und den Wert schätzen. Also fuhr ich hin. Als ich ankam, empfing sie mich fast nackt. Sie trug nur einen seidigen leichten Morgenmantel und nichts darunter. Ich war unangenehm berührt, bitte glaub mir das, Pia, ich wusste überhaupt nicht, was ich machen und wie ich reagieren sollte.« Er seufzte hörbar. »Dann hat sie mich nach allen Regeln der Kunst verführt.
Es ging ihr gar nicht um die Hausversicherung, es ging ihr nur darum, zu gewinnen und mich rumzukriegen. Und das hat sie geschafft. Das ist alles.«
Pia hatte den Kopf gesenkt, während sie ihm zuhörte. Zum ersten Mal bemerkte Marcello bewusst, dass ihr Haar von grauen Strähnen durchzogen war. Das war ihm bisher noch nie aufgefallen. Wie schön sie ist, dachte er, und der Gedanke rührte ihn zutiefst. Bleib bei mir, bitte, bleib bei mir und verzeih mir.
Pia brach nicht in Tränen aus, sie machte ihm keine Vorwürfe und wurde nicht hysterisch. Sie saß mit gefalteten Händen am Tisch und wirkte vollkommen ruhig, regelrecht konzentriert. »Da muss man ja fast Mitleid mit dir haben«, sagte sie derart sachlich und kühl, dass Marcello beim besten Willen nicht wusste, ob es Sarkasmus oder ehrlich gemeint war.
»Wann war das?«, fragte sie weiter.
»Kurz vor meinem Herzinfarkt. Vier Wochen vorher. Danach kam ich mit dem, was passiert war, überhaupt nicht klar, ich hatte ein so furchtbar schlechtes Gewissen, dass ich kaum noch Luft bekam. Wenn ich dich ansah, schnürte sich mir die Brust zusammen. Der Herzinfarkt hatte sicher damit zu tun.«
»Da muss man ja noch mehr Mitleid mit dir haben! Du Armer …« Sie lächelte milde.
»Wie oft warst du bei ihr?«
»Einmal! Nur ein einziges Mal! Ich schwöre dir, es ist nie wieder vorgekommen. Es war ein Ausrutscher, eine Dummheit, und ich hab es sofort bereut. Ich wünschte, ich könnte das alles ungeschehen machen.«
»Das wünschte ich auch.« Pia stand auf und ging zum
Fenster. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, während sie sprach. »Ich bin fassungslos, Marcello, ich weiß überhaupt nicht, was ich sagen oder denken soll. Ich kann dir im Moment noch nicht mal böse sein, weil mir alles so unwirklich erscheint. Ich habe immer gedacht, die Wahrscheinlichkeit, dass ein Komet vom Himmel und direkt auf unser Haus fällt, ist zehnmal höher als die, dass du mich betrügst. Alles hab ich mir vorstellen können, aber nicht das.« Sie machte eine längere Pause. Dann kam sie zurück zum Tisch, setzte sich und sah ihm direkt in die Augen, was er nur schwer aushalten konnte.
»Ich war immer davon überzeugt, dass es nur einen einzigen Menschen auf der Welt gibt, der wirklich treu ist. In seinen Gedanken, seinen Gefühlen und seinen Taten. Und dieser Mensch warst du für mich, Marcello. Ich dachte, du würdest dir eher die Hand abhacken, als eine andere Frau anzufassen. Das war ein wunderbares Gefühl. Ich war so sorglos, so frei und so glücklich. Ich hatte nie Angst um uns. Jede Frau war eine mögliche Freundin, keine eine Konkurrentin. Ein paradiesischer Zustand.« Sie lächelte. »Und jetzt ist alles, was mich so sicher und froh gemacht hat, in sich zusammengebrochen. Als habe man aus einer Pyramide einen Stein gezogen, der alles zum Einsturz bringt. Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Ich kann dir ja nie
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