Hexenkind
Kopfhörer auf und las Katharina von Georgien, Büchner oder Hauptmann, schrieb Referate oder Interpretationen und wartete sehnsüchtig auf Romano, der jeden Abend nach der Arbeit vorbeikam und die Nacht über bei ihr blieb.
Es dauerte nicht lange, und Romano gab seine Wohnung am Kleistpark auf und zog zu Sarah. Besuchen konnte sie ihn dort ohnehin nicht, weil sie Angst hatte, Franky zu begegnen, und Romano merkte, dass er seine Wohnung nur noch betrat, um seine Wäsche zu wechseln.
Sechs Wochen waren vergangen. Romano und Sarah lebten wie ein Ehepaar mit einem schreienden Kind. Romano hatte Nerven wie Drahtseile. Er ließ die brüllende Elsa so lange auf seinem Oberschenkel auf und nieder hüpfen, bis sie vor Erschöpfung einschlief. Sarah bewunderte ihn dafür und war glücklich. Alles in ihrem Leben war im Begriff, sich zum Guten zu wenden.
Auch von Franky hatte sie seit ihrem Auszug nichts mehr gehört, und sie rechnete nicht damit, jemals wieder etwas von ihm zu hören. Ihre Eltern bat sie, ihm auf keinen
Fall ihre neue Adresse oder Telefonnummer zu verraten, und Regine versprach es ihr hoch und heilig.
Insofern wähnte sich Sarah in absoluter Sicherheit und ging davon aus, in Ruhe ihr Studium beenden zu können, um dann zusammen mit Romano und Elsa nach Italien zu gehen.
Toskana, Oktober 2005 – wenige Stunden nach Sarahs Tod
16
Romano hatte kein Gefühl, wie lange er schon in der Tür stand. Niemand schien ihn zu bemerken, niemand kümmerte sich um ihn. Das ganze Haus ist besudelt mit ihrem Blut, dachte er, das Blut, das in ihrer Schläfe pochte, wenn sie aufgeregt war oder scharf nachdachte. Ich werde das Haus abreißen, ich werde es dem Erdboden gleichmachen, die Leute werden vergessen, dass es hier jemals ein Haus gegeben hat, in dem meine Frau ermordet worden ist.
Heute, dachte er, heute am 21. Oktober, hört mein Leben auf. Es ist alles vorbei. Ich habe keine Zukunft mehr.
Elsa und Edi wussten es sicher längst, und sicher würde sich Teresa um die beiden kümmern, das war jetzt sein kleinstes Problem. Das Hauptproblem bestand darin, weiterzuleben, wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen worden war.
Die Spurensicherung hatte inzwischen ihre Arbeit beendet, und Ivo vom örtlichen Bestattungsunternehmen kam mit einem seiner Mitarbeiter herein. Sie trugen einen grauen Sarg, den sie neben dem Bett aufklappten.
»C-c-c-ciao, Romano«, stotterte Ivo, »e-e-e-es tut m-mm-ir s-s-s-so verdammt leid!«
Ich glaub dir kein Wort, dachte Romano, tagelang sitzt du in deinem winzigen Geschäft der Piazza gegenüber und
wartest darauf, dass endlich jemand stirbt und du jemanden zu beerdigen hast. Dreimal am Tag gehst du in die Bar und trinkst einen Caffè nach dem andern, bleich und mit schleppendem Schritt, da fast jeder im Dorf gesünder aussieht als du. Jeden Sonntag betest du zu Gott um die Gnade des Todes, nicht bei dir, nur bei deinen Mitmenschen, aber Gott erhört dich nicht oft. Und jetzt kommst du hierher, in Sarahs Haus, nimmst ihre Leiche und sagst, es täte dir leid. Den Teufel tut es dir leid, Ivo, aber ich nehme es dir nicht übel, denn im Grunde bist du ein prima Kerl. Ein armes Schwein, aber anständig.
Romano reagierte nicht, zuckte mit keiner Wimper, sondern sah nur fassungslos zu, wie Ivo und sein Gehilfe Sarahs Körper anhoben und in den Sarg legten. Ivo warf Romano einen ängstlichen Blick zu, dann klappte er den Sargdeckel zu.
Wahrscheinlich begriff Romano erst in diesem Moment, dass er jetzt keinen Fehler mehr machen konnte, wenn er seine Frau berührte. Kommissare und die Kollegen der Spurensicherung würden ihn nicht anschreien, zurückziehen, beschimpfen und fragen, was eigentlich in ihn gefahren sei. Daher stürzte er auf Ivo zu, schob ihn zur Seite und öffnete den Sarg. Er fiel auf die Knie, küsste Sarahs blutverschmiertes Gesicht und flüsterte, was keiner im Raum verstand, weil er es nur in ihre Ohren, ihre Nase, ihre Augen hauchte: »Bald komme ich zu dir, mich hält hier nichts mehr. Ich liebe dich, hörst du? Ti amo, carissima.«
Unbeweglich blieb er neben ihr knien und sah sie nur an, als wolle er sich ihren schrecklichen Anblick in seine Seele brennen. Lange quälende Sekunden vergingen, und
niemand im Raum sagte ein Wort, bis sich eine Hand auf Romanos Schulter legte. Sie war unmerklich, beinah federleicht, aber Romano zuckte dennoch zusammen.
»Signor Simonetti?«, sagte eine tiefe Stimme unendlich langsam. »Kommen Sie, stehen Sie auf.«
Romano erhob sich
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