Hexenkind
langsam. Ivo und sein Gehilfe klappten erneut den Sargdeckel zu und trugen Sarah hinaus. Romano ging zum Fenster und beobachtete, wie der graue Sarg in den Leichenwagen geschoben wurde. Als Ivo die Kofferhaube zuschlug, sah er wegen der verdunkelten Scheiben nichts mehr von ihrem Sarg. Sie war verschwunden.
»Signor Simonetti«, wiederholte die tiefe Stimme. »Darf ich Sie einen Moment sprechen? Mein Name ist Neri. Donato Neri. Ich bin hier der leitende Kommissar.«
Romano starrte den Kommissar an, der ihn am Arm nahm und aus dem Zimmer zog. Er mochte Anfang fünfzig sein und hatte einen Bürstenhaarschnitt, der sein Gesicht noch runder machte, als es ohnehin schon war. Lediglich einige wenige graue Bartstoppeln gaben seinem dunklen Teint ein paar Konturen, die aber eher auf Nachlässigkeit in der Körperpflege, als auf modischen Schnickschnack hindeuteten. Romano war sich sicher, Donato Neri hier in dieser Gegend noch nie gesehen zu haben.
»Wo bringen Sie sie hin?«, fragte Romano.
»Ins pathologische Institut nach Arezzo«, antwortete Neri. »Zur Obduktion. Noch wissen wir kaum etwas davon, was hier passiert sein kann. Wir werden sie untersuchen, und ich bin sicher, dass wir dabei noch ein paar wichtige Informationen bekommen.«
»Darf ich sie noch einmal sehen? Ich muss ihr noch so
viel sagen, ich kann sie doch jetzt nicht so einfach gehen lassen …« Ihm versagte die Stimme.
»Ich werde sehen, was ich machen kann«, meinte Neri, den der Mann irgendwie rührte, obwohl er wusste, dass er sich vor solchen Gefühlen hüten musste. Zu viele Mörder waren hervorragende Lügner und noch bessere Schauspieler.
»Wo können wir uns in Ruhe unterhalten?«, fragte Neri.
»Nicht hier. Hier halte ich es nicht aus.«
»Das verstehe ich.«
»Ich möchte nach Hause. Meine Kinder brauchen mich.«
»Gut«, sagte Neri. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Sie begleite? Ich fahre in meinem Wagen hinter Ihnen her.«
»Meinetwegen.« Natürlich hatte Romano etwas dagegen, aber er wusste auch, dass er einem Gespräch mit dem Kommissar nicht auf Dauer aus dem Weg gehen konnte.
Sie fuhren nicht die Strecke durch den Wald, da Neris Auto nicht sehr geländegängig war, sondern nahmen den wesentlich längeren Weg über Cennina und Ambra.
Als sie Montefiera erreichten, wirkte das Haus wie ausgestorben. Enzo und Teresa waren nirgends zu sehen, und auch Edi ließ sich nicht blicken.
Romano bat Neri in seine Wohnung.
Neri sah sich aufmerksam um, nahm in einem Sessel Platz und bedankte sich für das Glas Wasser, das Romano vor ihn hinstellte. Dann sah er Romano, der ihm gegenüber saß, einen Moment an und rieb sich die Hände, als wisse er nicht recht, was er sagen solle.
»Signor Simonetti«, begann er schließlich betont ruhig. »Ihre Frau ist heute Nacht ermordet worden. Den genauen
Zeitpunkt wissen wir noch nicht. Können Sie mir sagen, wo Sie den gestrigen Abend und die Nacht verbracht haben?«
Romano nickte. »Ich habe in meiner Trattoria gearbeitet. Die letzten Gäste gingen erst um halb eins. Ein junges Paar, das ich hier im Ort noch nie gesehen habe. Auf jeden Fall Touristen, aber ich weiß nicht, wo sie wohnen.«
»Das kriegen wir raus. Und dann?«
»Dann bin ich in unsere Wohnung gegangen. Edi war in seinem Zimmer und schlief, Elsa wohnt nicht mehr zu Hause.«
»Haben Sie nach Edi gesehen, als Sie aus der Trattoria nach oben kamen?«
»Nein. Es war alles still, und ich wollte ihn nicht wecken. Er hat einen extrem leichten Schlaf, und manchmal reicht schon das Öffnen der Tür, dass er hochschreckt.«
»Aber wieso sind Sie so sicher, dass er in seinem Bett war?«
»Herrgott, wo soll er denn sonst sein? Er hat keinen Freund und keine Freundin, und er hat noch nie woanders übernachtet. Außerdem ist er behindert.«
»Inwiefern?«
»Er ist siebzehn und auf der geistigen Stufe eines Fünfjährigen.«
Neri nickte, aber Romano sah, dass er keineswegs überzeugt war. »Und Ihre Tochter Elsa? Könnte es nicht sein, dass sie vielleicht doch nach Hause gekommen ist und in ihrem Zimmer war?«, bohrte Neri weiter.
Romano schüttelte sehr bestimmt den Kopf. »Nein. Sie ist mit ihrer Freundin für eine Woche zur Saturnia-Therme gefahren.«
»Ihre Frau und Ihre Tochter verstanden sich gut?«
Romano zögerte. »Einigermaßen.«
»Was heißt das?«
»Das heißt gar nichts. Sie haben nur hin und wieder unterschiedliche Ansichten. Und Elsa ist noch sehr jung und geht gern auf Konfrontationskurs zu ihrer Mutter. Das
Weitere Kostenlose Bücher