Hexenkind
Neri. »Das ist ja nun erst mal nicht unbedingt etwas Außergewöhnliches. Interessant wäre allerdings zu wissen, ob sie einen Liebhaber hatte.«
Tommaso stand auf und setzte die Espressomaschine in Gang.
»Und noch etwas, Signor Neri. Die Signora hatte zum
Zeitpunkt ihres Todes, und das muss so gegen vier Uhr früh gewesen sein, ungefähr fünfzehn Stunden nichts mehr gegessen. Das letzte Mal also wohl zum Mittag so um eins oder zwei, und zwar vegetarische Lasagne mit Pilzen und als Nachtisch ein paar Cantucci mit Vin Santo. Die Pilze, die sie im Magen hatte, waren eindeutig ungiftig.«
»Was ja nicht so wichtig ist, wenn einem die Kehle durchgeschnitten wird«, meinte Neri trocken.
Tommaso zuckte bestätigend die Achseln und grinste erneut.
In diesem Moment schlug Neri mit der flachen Hand auf den Schreibtisch und sprang auf. »Komm, Tommaso, wir können hier nicht rumsitzen und Kaffee trinken. Es gibt’ne Menge zu tun!«
26
Romano, Elsa und Edi hielten sich an den Händen, als sie vor Sarahs offenem Grab standen. Romano links, Elsa rechts und Edi in der Mitte. Mit eisernem Griff hielt Romano Edis fleischige Hand, der hin und her zappelte und rhythmisch in den Knien wippte. Auch Elsa versuchte, ihn durch ihren Händedruck zu beruhigen.
Edis Hampeleien waren ein Ausdruck von Freude. Er strahlte übers ganze Gesicht, seine Augen verwandelten sich zu Schlitzen und verschwanden fast völlig zwischen seinen dicken Wangen. Ab und zu lachte er laut auf. Man spürte regelrecht, dass die Trauergemeinde jedes Mal zusammenzuckte.
Don Matteo, der Dorfpfarrer, ließ sich dadurch nicht beirren. Er segnete den Sarg, sprach ein paar Fürbitten, deren Schlusszeilen »… bitte für uns alle« die Dorfgemeinschaft laut mitsprach. Dann würdigte er Sarah als eine tüchtige Frau, die für ihre Familie gelebt, ihren Mann unterstützt und in schweren Zeiten nie den Glauben verloren hatte.
Edi riss sich los und schlug sich vor Lachen auf die dicken Schenkel.
»Edi, hör auf«, zischte Romano. »Du musst still sein, sonst bringe ich dich ins Auto.«
»Edi still – weil ich es will«, raunte Elsa, und Edi verstummte
augenblicklich. Er schob die Unterlippe vor und sah beleidigt aus.
Romano und Elsa nahmen ihn wieder an die Hand.
Direkt gegenüber, auf der anderen Seite der Grube, stand Antonio. Der Mann, der die Ursache allen Übels war. Der, den Sarah geliebt hatte. Er stand mit gefalteten Händen hinter einem Hibiskusbusch und hielt die Augen gesenkt. Ganz ruhig und unbeweglich, als wisse er nicht, dass sich Romanos Blick unentwegt in sein Gesicht bohrte.
Antonio Graziani, neunundzwanzig Jahre alt. Er hatte die Figur eines Stierkämpfers, die markanten Gesichtszüge eines David und den Augenaufschlag einer Madonna. Vor anderthalb Jahren hatte er ein kleines, feines Geschäft für Schreibutensilien in Siena, unweit der Piazza del Campo in der Via di Città übernommen, eine wahre Goldgrube, denn die Touristen kauften mit Begeisterung wertvolle Füllfederhalter, überteuertes Briefpapier und wunderschöne, in Leder gebundene Bücher mit leeren Seiten, bei denen noch nicht einmal Schriftsteller wussten, was sie hineinschreiben sollten. Für Sarah war dieses Geschäft eine Passion gewesen, eine Leidenschaft, sie war in der Lage, sich Tage und Monate an schönen Dingen zu berauschen, die sie niemals benutzen würde.
Antonio trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte, darüber einen weiten dunkellilafarbenen Mantel, der im Wind wehte, als er mit unverändert versteinertem Blick in die Tiefe des Grabes starrte.
Romano hatte nicht übel Lust, Antonio statt einer Schaufel Sand in die Grube zu werfen und das Grab eigenhändig zuzuschaufeln, damit dieses düstere Kapitel seines Lebens endlich ein Ende fand, aber er stand seinem Widersacher
hilflos gegenüber und wünschte sich weit weg von diesem Ort, in eine andere Zeit und in ein anderes Leben.
Elsa sah aus wie eine Porzellanpuppe. Ihr Gesicht war wächsern, der Ausdruck kühl. Sie wirkte, als registrierte sie gar nicht, was um sie herum geschah. Keine Träne schwamm in ihren Augen, und in ihrem schwarzen Kleid sah sie zerbrechlich und zart aus wie eine Siebzehnjährige. Nur ein einziges Mal biss sie sich auf die blutleeren Lippen, als ihr Blick dem von Antonio zufällig begegnete. Ein zweites Mal passierte ihr das nicht.
Schließlich kam der Moment, als Erde ins Grab geworfen wurde. Romano machte den Anfang, dann warf Elsa eine weiße Lilie auf
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